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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 546

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540 KLOSSOWSKI.

diesischen Frieden des Fiesole. Sie haben wohl etwas seltsam Erden-
fernes, aber es liegt in ihnen wie heisse Sehnsucht nach der schönen
Welt, nach leidenschaftlichem, bluterfülltem, beseeltem Leben. Wie ein
Seufzer verhaltener Leidenschaft geht es durch Botticelli’s ganzes Werk.
Er möchte sich so gerne ganz hingeben an die wunderbare, wieder
gefundene Erde — aber er vermag es nicht, wie Filippo mit leichter,
lachender Hand sich üppige Früchte vom Baume des Lebens zu
brechen. Im Hintergrunde seines Herzens lebt immer ein Gedanke an
Schuld und Reue, ein Tropfen mittelalterlichen Blutes rinnt noch in
seinen Adern. Und deshalb malt er diese müden Frauen und neben
ihnen seine schlanken Engel, die von Leben durchzittert sind, deren
bunte Gewänder flattern und die blühenden weissen Mädchenarme sehen
lassen und die zarten Gelenke ihrer schmalen Füsschen, die tanzen
möchten. Es ist immer wie das Ahnen einer ewig ungestillten Sehn-
sucht, die schliesslich aufhört zu hoffen, die sich gelegentlich aus-
drückt mit der ganzen Schwere wehmüthiger Resignatien, wie sie
Segantini’s Mütter haben.

Und diese Stimmung bleibt auch dort, wo es gilt, Schönheit und
Jugend zu feiern; wo er es unternimmt, in der Allegorie des Frühlings
und den Venusbildern den alten Märchenzauber der heidnischen Götter-
welt zu neuem Leben zu erwecken. Denn Botticelli, den man wohl
den allerchristlichsten aller Renaissancekünstler genannt hat, er ist es
auch, der als Erster wieder eine nackte Venus malen, etwas von der
hellenischen Heiterkeit reinen Menschenthums wiederzugeben versuchen
durfte. Antik sind an diesen Bildern nur die Stoffe; sie wollen nicht
alte Kunst reproduciren, sie bemächtigen sich, etwa wie Böcklin’s Märchen,
nur jener Vorstellungswelt, um in ihr die Träume, die Wünsche und
Ahnungen der eigenen Zeit zu dichten.

Und so entstehen diese seltsam lieblichen Bilder, die zu be-
richten scheinen von schwülen Zaubernächten, bei Mondenschein ver-
lebt in den Ruinen versunkener Venustempel. Nicht die bluterfüllte,
sonnendurchglühte Sinnlichkeit hellenischer Poesie liegt in ihnen — es
ist eine sehr feine und blasse Schönheit, die die zarten Gestalten eines
weltfernen Traumglückes heraufbeschworen hat. Es ist nicht die Pracht
üppiger Gliederfülle und idealer Linien, sondern Decadenzpoesie
schlanker und eckiger Formen, blasser, von rothen Locken umwallter
Gesichter, die mit grossen Augen fremd und verwundert starren.
Schüchtern schlingen sie die weissen Glieder zum Reigen oder streuen
eine üppige Fülle duftender Frühlingsblumen; träumerisch liegen sie in
blumendurchwirkten, fliessenden Gewändern auf grünen Wiesen oder
schweben in grossen Muscheln nackend auf der glitzernden Fluth. Wie
aus tiefen Träumen schlagen sie die Augen auf, sie sehen die un-
geahnte Schönheit des prächtigen lockenden Lebens in der ganzen
Gluth ihrer Sehnsucht, aber sie schreiten, den Boden kaum berührend,
mit leichten bebenden Schritten über die Erde und fühlen: nicht
für uns!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 546, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0546.html)