Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 542
Peter Altenberg und sein neues Buch (Messer, Max)
Text
sie in ihre Einheit zurück. Das Wesen der Dinge, wie sie Gott schuf
und erkannte, zeigt sich der Künstlerseele. — Alles, was ist, führt den
Sehenden zum Centrum. Nichts ist dem wahren Künstler zu gering.
Er trägt nicht die conventionellen Massstäbe des Verachtens und des
Gefallens in sich. Nie kann es ihm an Stoff mangeln, an Objecten
seiner Dichtung. So viel des Lebens ist, so viel ist des Dichtens. Mil-
liarden Dinge existiren, also Milliarden Wege für den Künstler, den
Urgrund zu treffen. Das ist die Kunst, das ist Peter Altenberg’s Kunst.
Einmal auf dieser metaphysischen Höhe der Betrachtung, kann er sich
getrost dem Wirklichen überlassen. Hat er die Wahrheit eines
Dinges erfasst, besitzt er auch den Schlüssel für alle anderen Dinge.
Dem Dichter, dem sich die Seelen der complicirten, modernen, nervösen
Menschen, ihre subtilen, kaum in das eigene Bewusstsein tretenden
Beziehungen offenbarten, haben sich auch die einfachen, natürlichen
und eben deshalb uns beinahe unverständlichen, schwarzen Menschen ent-
hüllt: Frau Bankdirector von H. und Paulina, diese überfeinen Wesen, die
Treibhauspflanzen gleichen, welche durch tausend Kreuzungen dem natür-
lichen Typus ihrer Gattung entfremdet wurden, und Nah-Badûh oder
Tióko, deren Seelen einfach, klar und hell sind wie Wasser und Luft!
— Je grösser die Seele eines Menschen, desto grössere Klüfte kann
sie übersteigen, desto näher rücken die Dinge an sie und erzählen ihr
ihr tiefstes Wesen. Peter Altenberg verstand die »femme incomprise«
unseres fin de siècle und diese primitiven »Paradiesesmenschen«. Zu-
gleich spiegeln sich in seinen Büchern tausend Reflexe des Lebens.
Dem Unwissenden mag er bloss wie ein Sammler von Wirklichkeiten
erscheinen, seine Dichtungen wie ein Museum von Empfindungen,
Stimmungen, Eindrücken, welche das Leben in ihm aufgestapelt hat,
wie das Meer seine Schätze an die Ufer wirft. Aber der Wissende
erschaut in jedem dieser kostbaren Stücke — mehr als ein Bijou des
Lebens, mehr als ein Kleinod der Erinnerung, mehr als ein köstliches
Geschenk des Zufalls. Hier ist eine seltsame, tiefe Seele, an der die
Dinge nicht vorbei rauschen, wie vor dem gewöhnlichen Menschen,
dem »homme médiocre«, blos Freude oder Leid hinterlassend, hier ist
eine Seele, deren Mechanismus so fein ist, dass neben dem Duft und
Zauber des Aeusserlichen immer noch das Wesentliche der Dinge,
ihrer Existenz und ihrer Beziehungen haften bleibt.
So ist Altenberg ein über dem Leben Stehender, Einer, der
dem Leben ins Herz sieht. So tief er auch des Lebens kleinste Regung
spürt, kann es ihn doch nie mit jener unheimlichen Gewalt erfassen
und erdrücken, der der naive Mensch unterliegt. Das Leben als
Feind kann ihn nicht überrumpeln; die Verwirrung der Leidenschaften,
der Triebe, die jeden Lebensmenschen bedroht, kann ihn nicht mehr
besiegen. — — Die Menschen wandeln wie Blinde durch den Urwald
des Lebens, stossen an jeder Wurzel, bluten an jedem Dorn. Er, der
Sehende, kann frei und ohne Schaden schreiten. Er braucht nichts
zu wünschen — denn er hat Alles. Um zu besitzen, bedarf er nicht
des Umweges: Wollen, Erzwingen. Die Menschen glauben nur das zu
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 542, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0542.html)