Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 541

Peter Altenberg und sein neues Buch (Messer, Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 541

Text

ALTENBERG UND SEIN BUCH »ASHANTEE«. 541

Menschen können wir lernen, wie viel in unserem Verkehr verlogen,
unaufrichtig, falsch oder halb empfunden ist — also wahrhafter
werden; an diesen Negern können wir lernen, wie viele unserer Be-
dürfnisse unnöthig zu einem heiteren, zufriedenen Leben seien, wie
einfach und natürlich auch der homo sapiens leben kann — also
freier werden.

Dies scheint mir die philosophische Bedeutung der Ashantee-
skizzen zu sein: Ihr belasteten Menschen der Cultur, die ihr gegen
euch selbst und gegen euere Gesellschaft wahr zu sein fürchtet und
von unnöthigen Fesseln zu Sclaven herabgedrückt seid, werdet leicht,
frei und wahrhaft wie diese »Paradiesesmenschen«

Während der erste Theil des neuen Buches von Peter Altenberg
sowohl dem Thema als dem Inhalt nach etwas durchaus Unerwartetes
und Singuläres ist, erscheint uns der zweite Theil wie eine Fortsetzung
zu »Wie ich sie sehe«. Dem Publicum mögen seine klareren, kräftigeren,
mehr aus der Nähe dringenden Töne das Verständniss des ersten Buches
erleichtern, auch der Kritiker kann jetzt seine Persönlichkeit schärfer
erfassen, deutlicher kundgeben.

Peter Altenberg ist im tiefsten Sinne Künstler.
Alle diejenigen, welche das Wesen der Kunst missverstehen, ihren Um-
fang zu eng nehmen, ihre Bedeutung nicht kennen, Alle, die in ihr
nur das »lose Spiel der Phantasie« erblicken, zur Unterhaltung und Zer-
streuung dienend, gerade gut genug, um über leere Stunden angenehm
hinwegzutäuschen, sind vor diesem Autor ängstlich zurückgewichen,
bekreuzten sich in ihrem Schrecken, murmelten die Gebetphrasen ihrer
verlogenen Aesthetik, wie es einst die Pfaffen vor der Wahrheit des
Galilei thaten. Aber das Wesen der Kunst liegt im Metaphysischen,
im Uebersinnlichen! Aus dem Wirklichen her nimmt sie ihre Wege
und strebt nach der Erkenntniss des Unwirklichen, Geheimnissvollen,
dem das Wirkliche entstammt, nach der Erkenntniss der Gesetze, die
das Leben bilden. Zu allem Seienden, allen Menschen, allen Schick-
salen, allem Blühenden und Vergehenden: Meer, Blume, Himmel und
Sonne, Greis, Mädchen und Kind, zu allen Quellen des Lebens, die
in ihm strömen und in ihm sich sammeln, spricht der Dichter: »Nicht
was ihr seid
, seid ihr! Doch was wir dichten, dichtet
ihr in uns
! So seid ihr unsere Dichter, unsere Dichtung,
der Lieder Sänger und das Lied zugleich.« — — — (»Wie
ich es sehe«, S. 17.)

Im Künstlergeist, als dem wahrhaften Centrum der natürlichen
Kräfte, schlagen die dunklen Wogen des Unirdischen an die hellen,
leuchtenden Gestade der Wirklichkeit. In ihm berührt sich die er-
zeugende Kraft mit dem Erzeugten, in jedem Künstlergeist findet der
Schöpfer seine Schöpfung wieder und erregt in ihm einen Theil des
ersten gewaltigen Schöpferrausches, der die Welt schuf; das Gewordene
findet in ihm seinen Grund.

Was im Werden auseinanderstob — das Erscheinende und das
Seiende, die sich feindlich fliehen — in der Künstlerseele wachsen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 541, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0541.html)