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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 556

Text

556 NOTIZEN.

zu documentiren. Die Entschuldi-
gungsrede, die Gettke kürzlich in
der Generalversammlung der Rai-
mund-Theater-Gründer gehalten hat,
war von einem vornehm beschei-
denen Tone getragen, der in die-
ser Gemeinde dividendenbesorgter
Spiessbürger nie noch vernommen
ward. Die diesjährige Sitzung ent-
behrte übrigens auch sonst der
üblichen rüden Scenen, und ihre
Theilnehmer betrugen sich auf-
fallend unparlamentarisch.

Auch den Bethätigungsdrang
des Satirikers, welcher in früheren
Jahren auf seine Rechnung zu
kommen pflegte, haben die Herren
diesmal kaum berücksichtigt. Nur
Herr Victor Silberer erklärte,
dass er »ein einfacher, schlichter
Bürger sei«, Herr Dr. Emil Reich
berief sich auf die deutsche Volks-
seele, und Herr Jaburek, der den
Abend hindurch beschaulich in
einer Ecke gelehnt und sich an
keiner der Debatten betheiligt hatte,
richtete unmittelbar vor ihrer Auf-
lösung an die noch beschlussfähige
Versammlung die Worte: »Meine
Herren! Mi gengen nicht nach
Hause; mi gengen zum Dreher!«

Das Raimund-Theater hat bisher
mit seinen internen Angelegenheiten
einen breiteren Raum im Interesse
der Oeffentlichkeit arrogirt als mit
seinen künstlerischen Darbietungen,
und ausschliesslich ein Programm
von effectvollen Zerwürfnissen,
fesselnden Coulissenintriguen und
wirksamen Abgängen beliebter Dar-
steller geboten. Es ist die
höchste Zeit, dass die Bürger von
Mariahilf ihres Kunstsinns enthoben
werden und dieses leidige Aus-
schusstheater endlich seinen Pächter
bekommt. Alpha.

Deutsches Volkstheater.
Zum erstenmale: »Das Kuckucks-
ei«, Volksstück von Oscar Fronz.
Ein Abend, der in den Zuschauern,
die ohne Ansprüche gekommen
waren, nichts unbefriedigt zurück-
liess und den Eindruck vollkommen-
ster Selbstverständlichkeit machte;
also willkommene Erholung nach
den Sensationen, die prätentiöse
Unfähigkeit in diesem Theater
wiederholt verursacht hat. Fronz
ist Schauspieler, seine Arbeit unver-
fälschte Capellmeistermusik. »Zum
erstenmale« wird ein tugendhaftes
Mädchen aus dem Volke vorge-
führt, welches eine enge Welt ver-
lässt, um dem Lockrufe des Lasters
zu folgen, aber im entscheidenden
Momente reuig in die Arme der
Ihren zurückkehrt. Diese von dick-
flüssiger Moral triefende Handlung
wird in vagen Strichen geführt,
aber immer wieder schlägt kräftig
der unverbrauchte Theaterinstinct
des Verfassers durch, der noch oft
zu nützen sein wird. Ein externer
Stückemacher müsste derartige
conventionelle Scenen erst aus
allen Archiven herbeischleppen und
künstlich zusammensetzen, dem
Schauspieler ist die Schablone zur
Natur geworden. Nur zu begreif-
lich, dass ihm das Leben Schablone
wird. Der Salon einer Gelegen-
heitsmacherin auf der Bühne hat
bestenfalls den Vorzug decorativer
Neuheit und könnte als humoristi-
sche Episode immerhin noch Ver-
wendung finden. Der Lebensernst
hat sich aus den im »Kuckucksei«
geschilderten Vorgängen zurück-
gezogen; ihr Inhalt ist nicht mehr
dramatisch, vielmehr bereits zur
Localnotiz erstarrt. F. Schik
(»Montagsrevue«) trifft, wie immer,
den Kern der Sache, wenn

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 14, S. 556, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-14_n0556.html)