Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 563

Text

DER VATER. 563

»Warte! warte!« schrie der Vater und ruderte auf ihn zu.

Doch der Jüngling legte sich auf den Rücken, warf seinem Vater
einen langen Blick zu und verschwand.

Thorr wollte es nicht glauben; er hielt das Boot an und blickte
starr nach der Stelle, wo sein Sohn untergegangen war, als hätte er
erwartet, ihn aus der Tiefe auftauchen zu sehen. Einige Wasserblasen
zeigten sich an der Oberfläche, eine letzte grössere zertheilte sich
und das Meer nahm seine spiegelklare Durchsichtigkeit wieder an.

Drei Tage und drei Nächte sah man den Vater an der Unglücks-
stätte herumrudern; ohne zu essen oder zu schlafen, suchte er seinen
Sohn. Am dritten Tage fand er den Leichnam und brachte ihn selbst
nach seiner Besitzung in die Berge.

Seit diesem Tode war ein Jahr vergangen. An einem Sommer-
abend zu sehr später Stunde hörte der Pastor, wie sich Jemand draussen
an der Thürschwelle bewegte und zu öffnen versuchte. Er ging selbst
hin und sah einen Mann von grosser Gestalt, doch mager und gebeugt,
ins Zimmer treten; seine Haare waren weiss. Der Pastor betrachtete
ihn lange Zeit, bevor er ihn erkannte; es war Thorr Oeverhaas.

»Kommst du so spät?« sagte der Pastor und blieb vor ihm
stehen.

»Leider komme ich spät«, erwiderte Thorr und setzte sich. Der
Pastor wartete, was folgen würde, und setzte sich ebenfalls; dann trat
eine lange Pause ein.

Endlich sagte Thorr: »Ich habe etwas bei mir, was ich den Armen
geben möchte. Ich habe die Absicht, eine wohlthätige Anstalt zu
gründen, die den Namen meines Sohnes tragen soll.«

Er erhob sich, legte das Geld auf den Tisch und setzte sich
wieder.

Der Pastor zählte die Summe und sagte: »Das ist aber viel!«

»Es ist die Hälfte des Kaufpreises, den ich heute für mein Gut
erhalten habe.«

Der Pastor versank wieder in ein langes Schweigen und fragte
endlich mit sanfter Stimme: »Was gedenkst du denn zu unternehmen?«

»Etwas Besseres als bisher.«

Wieder trat eine Pause ein; Thorr heftete seine Augen auf die
Diele; der Pastor blickte ihn fragend an, dann sagte er plötzlich
mit halblauter Stimme: »Ich glaube, jetzt endlich ist dein Sohn für
dich zum Segen geworden.«

»Ja, jetzt bin ich auch davon überzeugt«, versetzte Thorr, erhob
die Augen, und zwei Thränen flossen langsam seine Wangen herunter.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 563, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0563.html)