Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 564

Ihr letzter Ball (Auernheimer, Raoul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 564

Text

IHR LETZTER BALL.
Von Raoul Auernheimer (Wien). I.

Er war 19, sie 37. Er war ein hübscher Junge, sie eine schöne
Frau. Auf seiner Oberlippe lagen die ersten feinen Härchen eines
keimenden Bartes; und um ihre schönen Augen zogen sich die ersten
feinen Fältchen des ungalanten Alters.

Er stand ihr gegenüber, im schwarzen Frack, mit weissen Hand-
schuhen und auf der Brust ein leuchtendes Comitéabzeichen.

»Sie müssen zusagen, gnädige Frau!« sagte er, beinahe herzlich,
in der Hoffnung, einige Karten anzubringen.

»Ach!« sagte die schöne Frau in dem schmollenden, hätschelnden
Tone, in dem man zu ganz kleinen Kindern spricht. »Ich gehe nicht
mehr auf Bälle!«

Er entrüstete sich geläufig. »Nicht mehr!« Das war ihm ganz
unfassbar. »Nicht mehr!«

Da trat Frau Selma ganz nahe an ihn heran, so dass der Spitzen-
duft ihres Morgenkleides ein wenig erstaunt Bekanntschaft machte mit
dem flammenden Comitéabzeichen auf seiner Brust. Und den Kopf
lächelnd ein wenig gesenkt, drehte sie ihre dunkelbraunen Augen
nach aufwärts. Das war so ein kleiner Kunstgriff, dessen sie sich seit
zwanzig Jahren im Verkehr mit Männern — nicht ohne Erfolg — be-
diente.

Herr Richard Greif erkannte sofort, dass dieser Blick verführerisch
wirken solle; und er ergriff ihre herzige, kleine, warme Hand und beugte
sich darüber, wie verstummt vor Seligkeit.

Sie entzog ihm die Hand mit einem reizenden Lächeln — es
war das reizende Lächeln ihrer letzten fünfzehn Jahre.

»Und wenn ich Ja sage?« meinte sie mit berechneter Unent-
schlossenheit.

»Sie sagen Ja!«

»Schau’n Sie nur!« sagte sie nun wieder hätschelnd, in dem
traulichen Altmütterchenton, den sie seit zehn Jahren etwa ganz jungen
Männern gegenüber in Anwendung brachte. Und unsäglich bescheiden
fugte sie hinzu:

»Ich werde ja sicher sitzen bleiben!«

Darüber lacht ein Comitémitglied.

Er lachte: »O, meine Gnädige! O, Sie werden des Balles Königin
sein, und zwanzig Pagen werden Ihren Fächer tragen.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 564, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0564.html)