Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 572
Text
Er zog sie an sich, und widerstandslos sank sie an seine Brust,
von Thränenkrämpfen erschüttert.
»Herzchen!« beruhigte er sie hätschelnd, »sei doch gescheit! —
Es war eben ein verfehlter Abend! Das macht ja nichts. Wir gehen
doch nächstens wieder auf einen Ball, wenn du es willst.«
»Nein!« schluchzte sie. »Nein! Nein!«
Er umschlang ihr Haupt, küsste ihr Haar, streichelte ihre Wangen.
»Wir gehen doch wieder,« tröstete er.
Sie wand sich zärtlich von ihm los, hob das Haupt, trocknete
ihre Augen.
»Es war mein letzter Ball!« sagte sie, und traurig irrte ihr Blick
umher, bis er auf dem Antlitz des lieblichen, kleinen Mädchens ver-
weilte, dessen gechlossene Augen sehnsüchtig in das Reich der Zukunft
schauten.
Der Gatte folgte ihrem Blick. Ein väterlich zärtliches Lächeln glitt
über seine Züge. Er deutete auf das Kind.
»In drei — vier Jahren,« sagte er, »gehen wir wieder auf den Ball.«
Da lächelte Frau Selma unter Thränen.
Und mit der ganzen Melancholie seiner soliden Kaufmannsseele
seufzte er leise:
»Der letzte Ball und der erste — wie liegen sie nah’ an ein-
ander!«
HIMMLISCHE TAGE.
Die grauen Regenstürme schliefen nun ein
Schwer und leuchtend duften die Syringen
Und bergen Seligkeit.
In tausend Röthen erglühst du, Erde,
Denn der Abend kommt
Oh, nun schaukelt mein Herz auf ewigen Meeren
Und schweigt und horcht
Aus einer fernen Flöte tönt sein Glück.
Berlin. Franz Evers.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 572, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0572.html)