Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 571
Text
Und sie nahm sich zum letztenmale zusammen, stand auf und
rauschte durch den Saal, stolz, wie sie gekommen, mit leuchtendem
Blick, mit siegesgewissem, bethörendem Lächeln, mitten durch das
rauschende, rhythmische Wogen, durch die Gruppen der heissen, drehenden,
lächelnden Paare, die sich gleich Marionetten bewegten nach der sinne-
bethörenden, geistlosen Melodie der Jugend, und sie rauschte lächelnd
hinaus, bis die letzten Wellen der Tanzmusik melancholisch verrauschten,
erstarben, bis der Schein der letzten Lampe um sie im Dunkel zerfloss.
Erst, da sie in der schwarzen Wagenecke sass, versank das Lächeln
um ihren Mund, und mit grossen, angstvollen Augen starrte sie hinaus
in die neblige, düstere Nacht, in die Zukunft.
»Es gibt nichts Amusanteres, als so ein Ball!« wiederholte Herr
Friedhart von Zeit zu Zeit.
Sie würdigte ihn keiner Antwort.
Zu Hause angekommen, trat sie mit einer Lampe in das Schlaf-
zimmer der Kinder. Der kleine Willi lag, den Kopf auf die Rundung
des Armes gestützt, die Bäckchen im Schlummer geröthet, den süssen,
kleinen Mund halboffen. Mama küsste ihn zärtlich auf das dünne
Hälslein, um das die duftige Krause seines Jäckchens lag.
Emmy schlief viel manierlicher, das feine Köpfchen, von krausem,
braunem Haar umlockt, weit zurückgebogen, wie verloren in den An-
blick des unendlichen Landes der Sehnsucht.
Frau Selma küsste sie auf die Lider mit den langen Seiden-
wimpern, sank vor dem Bettchen auf die Kniee und beugte sich über
die kleine, warme Hand des Kindes. Und sie dachte nicht mehr an das
Fischbein vor ihrem Herzen, an den Puder auf ihren Wangen.
Herr Friedhart schaute zu ihr hinüber.
»Nun«, höhnte er, noch immer rasend vor Aerger, »du bist ja gar
nicht lustig!«
Sie schwieg.
»Hast du dich vielleicht nicht unterhalten? — Hast du nicht
rasend getanzt? — Hast du nicht Eroberungen gemacht? — War dir
der junge Mann, der dir den Fächer aufhob, nicht frech genug? —
Ich, meinerseits, habe mich köstlich unterhalten, und finde, dass man
nicht Geld genug ausgeben kann für ein solches Vergnügen.«
Frau Selmas Haupt sank tiefer. All die gekränkte Eitelkeit, die
Beschämungen, Enttäuschungen, die ganze Reue dieses verfehlten Abends
drängten sich in ihrer kleinen Seele zusammen, und heisse Thränen
schössen ihr in die Augen, während ein verzweifeltes Schluchzen ihre
nackten Schultern hob und senkte.
Da bemerkte Herr Friedhart bestürzt, dass er zu weit gegangen;
sein gutmüthiges Herz war trostlos über die Verzweiflung seiner
kleinen Frau.
»Aber Kind,« beschwichtigte er sie, während er ihre Hände küsste,
»wein’ nicht! Na! — Na! Wein’ nicht! Ich hab’s nicht bös’ gemeint!«
Sie stand langsam auf, das Spitzentaschentuch vor den Augen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 571, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0571.html)