Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 573

Das Erwachen der Seele (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 573

Text

DAS ERWACHEN DER SEELE.
Von Maurice Maeterlinck (Gent).1)
Aus dem Französischen von Richard Schaukal.

Es wird vielleicht eine Zeit kommen, und viele Zeichen sind ihrer
Nähe, eine Zeit wird vielleicht kommen, da unsere Seelen einander er-
blicken werden ohne das Mittel der Sinne. Unleugbar ist, dass sich
das Reich der Seele täglich mehr verbreitert. Sie ist unserm sicht-
baren Wesen weit näher und nimmt weit mehr theil an unseren
Handlungen als vor 200 bis 300 Jahren. Man könnte sagen: wir
kommen an eine spirituelle Epoche. Es gibt in der Geschichte eine
gewisse Zahl ähnlicher Perioden, in denen die Seele, unbekannten Ge-
setzen gehorchend, gleichsam an die Oberfläche der Menschheit steigt
und ihr Dasein und ihre Macht offenkundiger bestätigt. Dieses Dasein
und diese Macht offenbaren sich auf tausend unerwartete und ver-
schiedene Arten. Es scheint, als ob die Menschheit in diesen Momenten
auf dem Punkte gewesen wäre, die lastende Bürde der Materie ein
wenig aufzuheben. Es herrscht in ihnen etwas wie eine geistige Er-
leichterung, und die härtesten und unbeugsamsten Gesetze der Natur
geben da und dort nach. Die Menschen sind sich selbst näher, sie
sind ihren Brüdern näher; sie sehen einander an und lieben einander
viel ernstlicher und viel inniger. Sie verstehen viel zarter und viel
tiefer das Kind, das Weib, die Thiere, die Pflanzen und die Dinge.
Vielleicht sind die Bildwerke, die Gemälde, die Schriften, die sie uns
gelassen haben, nicht gerade vollendet; aber es ist in ihnen etwas
Unsagbares von geheimer Kraft und Gnade, das ewig leben wird und
unterwerfen. In den Blicken der Menschen muss damals eine Bruder-
liebe gewesen sein und traumhaftes Hoffen; und allüberall findet man
neben den Spuren des gewöhnlichen Lebens die welligen Spuren eines
andern Lebens, das man sich nicht erklärt.

Das, was wir von dem alten Egypten wissen, gestattet die An-
nahme, dass es eine dieser spirituellen Perioden durchmass. In einer
sehr entlegenen Epoche der indischen Geschichte muss die Seele sich
der Oberfläche des Lebens bis zu einem Punkte genähert haben, den
sie niemals mehr erreichte; und die Ueberreste und die Erinnerungen
an ihre fast unmittelbare Gegenwart erzeugen dort noch heute selt-
same Phänomene. Es gibt noch genug andere Momente derselben Art,
da das spirituelle Element auf dem Grunde der Menschheit zu ringen
scheint wie ein Ertrinkender, der sich mit Händen und Füssen wehrt
unter den Wassern eines grossen Flusses. Denken wir z. B. an Persien,


1) Le trésor des humbles.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 573, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0573.html)