Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 574
Text
Alexandrien und die zwei mystischen Jahrhunderte des Mittelalters.
Hingegen gibt es vollendete Jahrhunderte, in denen die Intelligenz und
die Schönheit ganz ausserordentlich rein vorherrschen, aber die Seele
sich nicht zeigt. So ist sie sehr weit von Hellas und Rom, vom XVII.
und XVIII. Jahrhundert Frankreichs. (Mindestens von der Oberfläche
dieses letzteren Jahrhunderts, denn seine Tiefen mit Claude de Saint-
Martin, Cagliostro, der ernster zu nehmen ist, als man glaubt, Pascalis
und so vielen Anderen, verbergen uns noch manche Mysterien.) Man
weiss nicht warum, aber etwas ist nicht da; geheime Verbindungen
sind zerschnitten und die Schönheit schliesst die Augen. Es ist sehr
schwer, das in Worten auszudrücken und zu sagen, aus welchen
Gründen die Atmosphäre der Götternähe und des Schicksals, die die
griechischen Dramen umgibt, nicht als die wahrhaftige Atmosphäre der
Seele erscheint. Man entdeckt am Horizonte dieser bewunderungs-
werthen Tragödien auch ein beständiges und verehrungswürdiges Ge-
heimniss; aber es ist das nicht jenes rührende, brüderliche und so
ungemein thätige Geheimniss, das wir in manchen weniger grossen
und weniger schönen Werken finden. Und uns näherliegend: wenn
Racine der unfehlbare Dichter des Weibes ist, wer wagte es, uns
zu sagen, dass er jemals einen Schritt gemacht zu seinem Herzen?
Was würdet ihr mir antworten, wenn ich euch um die Seele der
Andromache oder des Britannicus fragte? Die Personen des Racine
verstehen einander nur durch das, was sie aussprechen; und kein
Wort durchbricht die Dämme des Meeres. Sie sind fürchterlich
einsam auf der Oberfläche eines Planeten, der nicht mehr am
Himmel wandelt. Sie können nicht schweigen, sonst würden sie nicht
mehr sein. Sie haben kein »unsichtbares Princip«, und man könnte
glauben, eine trennende Substanz sei zwischen ihren Geist und ihr
eigenes Wesen gesetzt worden, zwischen das Leben, das an alles
Existirende rührt, und das Leben, das nur rührt an den flüchtigen Augen-
blick einer Leidenschaft, eines Schmerzes, eines Verlangens. Es gibt
wirklich Jahrhunderte, in denen die Seele einschläft und kein Mensch
mehr sich um sie bekümmert.
Heute ist es augenscheinlich, dass sie grosse Anstrengungen
macht. Sie bestätigt sich überall auf eine ungewöhnliche, gebieterische
und zwingende Art, wie wenn eine Losung gegeben worden wäre und
sie keine Zeit mehr zu verlieren hätte. Sie muss sich zu einem Ent-
scheidungskampfe vorbereiten, und kein Mensch kann Alles erforschen,
was von Sieg oder Flucht abhängt. Niemals vielleicht hat sie so unter-
schiedliche und unwiderstehliche Kräfte ins Werk gesetzt. Man könnte
sagen, dass sie sich an eine unsichtbare Mauer gedrängt fühlt, und
man weiss nicht, ob das Erschöpfung ist oder ein neues Leben, das
sie bewegt. Ich will nicht reden von den dunklen Mächten, die sich
um uns erheben: vom Magnetismus, der Telepathie, der Levitation,
den ungeahnten Eigenschaften der strahlenden Materie und tausend
andern Phänomenen, die die officielle Wissenschaft erschüttern. Diese
Dinge sind von Allen gekannt und bestätigen sich ungezwungen. Und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 574, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0574.html)