Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 575

Das Erwachen der Seele (Maeterlinck, Maurice)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 575

Text

DAS ERWACHEN DER SEELE. 575

ausserdem sind sie wahrscheinlich gar nichts im Vergleich mit dem,
was sich in Wirklichkeit bereitet, denn die Seele ist wie ein Schläfer,
der aus seinen Träumen heraus unsäglich sich müht, einen Arm zu
bewegen oder das Lid zu heben.

In andern Regionen, denen die Menge keine solche Aufmerk-
samkeit entgegenbringt, rührt sie sich noch viel wirksamer, obgleich
dieses Rühren den Augen, die nicht gewohnt sind, zu sehen,
weniger erkennbar ist. Würde man nicht sagen, dass ihre Stimme auf
dem Punkt ist, mit einem höchsten Schrei die letzten Töne des Irr-
thums zu durchdringen, die sie noch in der Musik umhüllen; und hat
man jemals tiefer die heilige Schwere einer unsichtbaren Gegenwart
gefühlt als in unseren Werken gewisser ausländischer Maler? Endlich,
in der Literatur, kann man nicht constatiren, dass mancher Gipfel sich
da und dort erhelle von einem Lichte ganz anderer Natur als die
seltsamsten Lichter der vergangenen Literaturen? Wir nahen uns einer
unausdrückbaren Umformung des Schweigens, und das »erhabene
Gegebene«, das bisher herrschte, scheint nahe am Ende seiner Existenz
zu sein.

Ich halte mich bei diesem Gegenstande nicht auf, weil es noch
zu früh ist, klar von diesen Dingen zu reden; aber ich glaube, dass
selten eine so gebieterische Gelegenheit geistiger Befreiung unserer
Menschheit geboten ward. Manchen Augenblick ähnelt das einem
Ultimatum; und deshalb darf man nichts versäumen, diese drohende
Gelegenheit zu ergreifen, die die Natur der Träume hat, welche ver-
schwinden, ohne jemals wiederzukehren, wenn man sie nicht unverzüg-
lich festhält. Lasst uns klug sein, nicht ohne Grund bewegt sich unsere
Seele.

Aber diese Bewegung, die man deutlich nur auf den speculativen
Hochebenen des Seins bemerkt, bethätigt sich vielleicht auch, ohne
dass man nur daran denkt, auf den gewöhnlichsten Wegen des Lebens.
Denn keine Blume öffnet sich auf den Höhen, die nicht mit dem Fall
ins Thal endet. Fiel sie bereits? Ich weiss es nicht. Jedenfalls können
wir im täglichen Leben zwischen den niedrigsten Wesen geheimnissvolle
und directe Rapporte bemerken, geistige Phänomene und Seelennähe-
rungen, von denen man kaum zu anderen Zeiten sprach.

Existirten sie vor uns weniger unleugbar? Man muss das glauben,
denn zu allen Zeiten gab es Menschen, die bis auf den Grund der
geheimsten Beziehungen des Lebens gingen, und die uns Alles hinter-
lassen haben, was sie in Erfahrung brachten über die Herzen, die
Geister und die Seelen ihrer Zeiten. Es ist wahrscheinlich, dass damals
dieselben Beziehungen bestanden; aber sie konnten damals nicht die
frische und allgemeine Kraft besitzen, die sie in diesem Augenblicke
haben; sie waren nicht in die Tiefe der Menschheit herabgestiegen,
denn sonst hätten sie die Blicke der Weisen auf sich gelenkt, die sie
mit Stillschweigen übergangen haben. Und hier spreche ich nicht mehr
vom »wissenschaftlichen Spiritismus«, von seinen Phänomenen der
Telepathie, der Materialisation, noch von anderen Manifestationen, die

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 575, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0575.html)