Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 576

Das Erwachen der Seele (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 576

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576 MAETERLINCK.

ich soeben aufgezählt. Es handelt sich um Ereignisse und Seelenver-
mittlungen, die ohne Unterlass sich vollziehen in der trübsten Existenz
derjenigen Wesen, die ihre ewigen Rechte ganz und gar vergessen
haben. Es handelt sich auch um eine ganz andere Psychologie als die ge-
wöhnliche, die den schönen Namen der Psyche usurpirt hat, da sie
sich in Wahrheit nur mit denjenigen geistigen Phänomenen befasst, die
am engsten mit der Materie zusammenhängen.

Es handelt sich mit einem Worte darum, was uns eine übersinn-
liche Psychologie offenbaren sollte, die sich mit den directen Zu-
sammenhängen beschäftigte, welche zwischen den Menschen von Seele
zu Seele bestehen, und ebenso mit der Empfindlichkeit wie mit der
aussergewöhnlichen Gegenwart unserer Seele. Diese Wissenschaft, die
den Menschen um einen Grad heben würde, ist im Entstehen, und sie
wird nicht zögern, die Elementarpsychologie ausser Anwendung zu
setzen, die bis heute geherrscht hat.

Diese unmittelbare Psychologie steigt von den Bergen herab, be-
mächtigt sich bereits der kleinsten Thäler, und ihre Gegenwart macht
sich schon in den mittelmässigsten Aufzeichnungen bemerkbar. Nichts
kann klarer darthun, dass der Druck der Seele in der gesammten
Menschheit zugenommen, und dass ihre geheimnissvolle Thätigkeit sich
verallgemeinert hat. Wir streifen hier Dinge, die fast unsagbar sind,
und man kann nur unvollständige und grobe Beispiele geben. Ich führe
zwei, drei an, die elementar sind und bemerkbar: Ehemals, wenn es
sich einen Augenblick handelte um eine Ahnung, um den sonderbaren
Eindruck eines Zusammenkommens oder eines Blickes, um eine Ent-
scheidung, die aus einem unbekannten Winkel der menschlichen Ver-
nunft geholt war, um eine Dazwischenkunft oder eine Kraft, die un-
erklärlich schien und die man doch verstanden, um geheime Gesetze
der Antipathie oder Sympathie, um Wahlverwandtschaften oder instinc-
tive Annäherungen, um den vorherrschenden Einfluss ungesagter Dinge,
hielt man sich nicht bei diesen Problemen auf, die sich übrigens selten
genug der Unruhe eines Denkers darboten. Man schien ihnen nur
durch Zufall zu begegnen. Man ahnte nicht das ausserordentliche Ge-
wicht, mit dem sie unablässig auf das Leben drückten, und man be-
eilte sich, zurückzukehren zu den gewohnten Spielen der Leidenschaften
und der äusseren Erlebnisse.

Diese geistigen Phänomene, mit denen sich die grössten, die
tiefsten unserer Brüder ehmals kaum befassten, heute bekümmern sie
die Kleinsten unter uns; und das beweist wieder einmal, dass die
menschliche Seele eine Pflanze von vollkommener Einheit ist, und dass
alle ihre Zweige, wenn die Stunde gekommen, zu gleicher Zeit aus-
schlagen und blühen. Der Bauer, dem ungestüm das Geschenk würde,
auszusprechen, was er in seiner Seele hat, könnte in diesem Augen-
blicke Dinge sagen, die sich noch nicht in der Seele des Racine
fanden.

Und so kommt es, dass Leute von weit geringerer Genialität als
Shakespeare oder Racine ein heimlich lichtvolles Leben bemerkt haben,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 576, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0576.html)