Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 577

Das Erwachen der Seele (Maeterlinck, Maurice)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 577

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DAS ERWACHEN DER SEELE. 577

dessen blosse Kehrseite das Leben ist, das diese Meister als das ein-
zige kannten. Das heisst also: Es kann nicht genügen, wenn eine grosse
Seele in Einsamkeit sich da- und dorthin rührt, in den Raum oder in
die Zeit. Sie wird wenig ausrichten, wenn sie keine Hilfe hat. Sie ist
die Blume der Massen. Sie muss in dem Moment kommen, da der
ganze Ocean der Seelen sich beunruhigt; und wenn sie gerade zur
Schlafenszeit gekommen, wird sie nur reden können von den Träumen
der Schlafenszeit. Um nur ein berühmtes Beispiel aus allen herauszu-
ziehen: Hamlet in Helsingör nähert sich jeden Augenblick dem Rande
des Erwachens, und dennoch, trotz des eisigen Schweisses, der seine
bleiche Stirne krönt, gibt es Worte, die er sagen wollte, und zu denen
er nicht kommt, Worte, die er heute ganz zweifellos aussprechen
könnte, weil ihm die Seele des Lumpen selbst und des Diebes, die
vorüberwandern, zum Ausdruck helfen könnte. Hamlet, wenn er Claudius
ansieht oder seine Mutter, würde jetzt lernen, was er nicht wusste,
weil es den Anschein hat, als ob sich die Seelen schon nicht mehr
mit so viel Schleiern verhüllen. Wisset ihr auch wohl — und das ist
eine beunruhigende und seltsame Wahrheit — wisset ihr auch wohl,
dass, wenn ihr nicht gut seid, es mehr als wahrscheinlich ist, dass
euere Gegenwart es heute hundertmal klarer gesteht, als sie es vor
zwei oder drei Jahrhunderten gethan? Wisset ihr auch wohl, dass,
wenn ihr heute Morgen auch nur eine Seele betrübt habt, die Seele
des Bauern, mit dem ihr ein Gespräch beginnen wollt über das Ge-
witter oder die Regen, davon benachrichtigt ward, bevor noch seine
Hand nach der Thürklinke griff? Legt die Maske eines Heiligen, eines
Märtyrers, eines Helden an — das Auge des Kindes, das euch be-
gegnet, wird euch nicht mit demselben unerreichbarem Blicke grüssen,
wenn ihr in euch einen schlechten Gedanken habt, eine Ungerechtig-
keit oder die Thränen eines Bruders. Vor hundert Jahren wäre viel-
leicht seine Seele unaufmerksamer an euerer Seele vorübergegangen

Und wirklich, es wird schwierig, in seinem Herzen, gedeckt vor
den Blicken, einen Hass zu nähren, Neid oder einen Verrath, so un-
ablässig aufmerksam sind die allergleichgiltigsten Seelen rings um unser
Wesen. Unsere Vorfahren haben uns von diesen Dingen nicht gesprochen,
und wir finden, dass das Leben, in dem wir uns bewegen, grund-
verschieden ist von dem Leben, das sie schilderten. Haben sie betrogen
oder wussten sie nicht? Die Zeichen und die Worte taugen nichts
mehr, und fast Alles entscheidet sich in den mystischen Kreisen einer
einfachen Gegenwart. Selbst der alte Wille, auch er, dieser alte Wille,
den wir so gut kannten, und der so logisch war, ändert sich auch,
auch an ihn kommt die Reihe, und er unterwirft sich dem unmittel-
baren Zusammenhange dieser grossen, unerklärlichen und tiefen Gesetze.
Es gibt fast keine Schlupfwinkel mehr und die Menschen kommen ein-
ander so nahe. Sie beurtheilen einander über die Worte und Hand-
lungen weg, ja selbst über die Gedanken weg, denn das, was sie
erblicken, ohne es zu verstehen, liegt gar hoch über dem Reiche der
Gedanken. Und das ist eines der grossen Kennzeichen jener spirituellen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 577, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0577.html)