Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 579

Zur Psychologie des Kerkerlebens (Zerboglio, Prof. Adolfo)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 579

Text

ZUR PSYCHOLOGIE DES KERKERLEBENS.
Von Prof. Adolfo Zerboglio (Pisa).
Aus dem Manuscript übersetzt von Otto Eibenschitz.

Die Psychologie des Kerkerlebens lässt sich auf zweierlei Art
schreiben: entweder, indem man den Kerker begrifflich mit der freien
Atmosphäre vergleicht und aus diesen Parallelen alle Uebel und alle
Leiden ableitet, die den von der Gesellschaft degradirten Mann be-
drücken sollten, der fern von den Seinen lebt, einsam und allein, in
der trostlosen Gleichförmigkeit des Gefängnisses, oder indem man in
Wirklichkeit den Eingekerkerten in seinen wahren psychischen Er-
scheinungen und Kundgebungen beobachtet: in Allem, was er thut, in
seinem Gehaben, in seiner Gesundheit, in den tatsächlichen Wirkungen,
die die Kerkerstrafe auf alle Jene hervorbringt, die sie erdulden mussten.

Die erste Methode führt zu glänzenden schriftstellerischen Dar-
bietungen, voll von Schwermuth, von furchtbaren und traurigen Phrasen
und Worten, wie man solchen in den schönen Aufsätzen von Gym-
nasiasten oder in zarten Erzählungen empfindsamer Mädchengemüther
begegnet.

Die zweite Methode führt zu keinen vorgefassten Meinungen, und
statt uns die Gedanken und die Erkenntniss dessen zu offenbaren, der
über das Kerkerleben schreibt, offenbart sie uns dagegen die richtige
Gestalt dessen, der in der engen Zelle oder in dem weiten Schlafraume
des Zuchthauses eingeschlossen ist.

Um die rhetorische Psychologie der Gefangenen zu ent-
werfen, braucht man sich diesen weder genähert, noch irgend ein Ge-
fängniss besucht zu haben; man braucht nicht zu wissen, worin das
Verbrechen bestehe, noch wie es entstanden sei; man braucht auch
nicht die Geschichte der Strafe zu kennen, noch von dem gerichtlichen
Mechanismus Kenntniss zu haben, der einen Menschen bis zur Ver-
urtheilung führt.

Alles das ist vollkommen überflüssig. Es genügt zu wissen, dass
die Gefängnissstrafe für Gesetzgeber und für die allgemeine Anschauung
eine Qual bedeutet, dass den bösen Thaten logischerweise eine Reue
folgen muss, und dass man in den Annalen der Gerechtigkeit nicht
wenig richterliche Irrthümer verzeichnet findet.

Mit diesen Kenntnissen, mit einem guten Herzen und einer leb-
haften Phantasie versehen, ist ein Schreibtisch-Psychologe sehr wohl in
der Lage, eine beträchtliche Anzahl von Seiten vollzuschreiben und
mit diesen starke Emotionen hervorzurufen, Seufzer, Entrüstung und sogar
auch Thränen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 579, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0579.html)