Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 580
Text
Um aber die genaue Psychologie oder, besser gesagt, die mög-
lichst wenig ungenaue oder nicht a priori falsche Psychologie der Ge-
fangenen zu entwerfen, ist es erforderlich, dass man einige Zeit hin-
durch in ihrer Nähe geweilt habe, dass man sie genau beobachtet und
ihren Gesprächen zugehört, dass man ihren physischen Zustand unter-
sucht, dass man das gelesen habe, was sie schreiben, dass man Ge-
fängnisswärter und Gefängnissdirectoren befragte, dass man ihren gegen-
wärtigen Zustand mit dem früheren in allen seinen Details vergleiche
und endlich, dass man sowohl die Natur des verbrecherischen Phänomens
in sich selbst und in seinen Ursachen als auch jene der Strafe und
ihrer positiven Wirksamkeit kenne.
Diesem letzteren System folgend, will ich es versuchen, einige
— unvermeidlich flüchtige — Umrisse einer Psychologie des Kerker-
lebens zu geben.
Nachdem ich mir vom Generaldirector der italienischen Gefäng-
nisse einen Erlaubnissschein verschafft hatte, unternahm ich eine
Forschungsreise durch fünf Zuchthäuser und eine Irrenanstalt für
Sträflinge.
In einigen Gefängnissen sind die Verbrecher, je nach der Höhe
ihres Strafausmasses und der von ihnen begangenen strafbaren Hand-
lungen einzeln in Zellen eingesperrt, während sie in anderen gemein-
schaftlich in geräumigen Schlafsälen leben oder in grossen, theils ge-
schlossenen, theils offenen Räumen arbeiten, die in Werkstätten umge-
wandelt sind. Den Psychologen interessiren in erster Linie die Zellen-
bewohner.
Diese Zellen bestehen — soweit ich sie besichtigen konnte —
aus Kammern von 2½ bis 3 Meter Länge, 1¾ bis 2 Meter Breite
und ungefähr 3 Meter Höhe; ihre Einrichtung besteht aus einem ein-
fachen eisernen Bett, einem Bänkchen und einem Gefäss zur Verrich-
tung der Nothdurft. Das genügend breite Fenster ist durch starke
Eisenstangen vergittert. Welches Dasein führen die Insassen dieser
Zellen? Welche Gedanken durchkreuzen ihr Hirn, von welchen Empfin-
dungen und Gefühlen werden sie beherrscht?
Betrachtet man durch die Lupe eines ehrlichen, liebevollen,
empfindungsfähigen Menschen die Existenz der Individuen, die zwischen
diesen ärmlichen und engen vier Wänden viele Jahre hindurch einge-
kerkert leben, dann muss man unbedingt von Entsetzen und Schauder
erfasst werden und an eine unbeschreibliche Sehnsucht nach Verkehr
mit Menschen und nach der Welt denken.
Jener furchtbar elende Raum der Zelle stellt für den Sträfling
Strassen, Plätze, Felder, Wiesen und Wälder dar, und in Ermangelung
jedweden äusseren Eindruckes bleiben dem Aermsten bloss die inneren
Eindrücke seiner Erinnerungen und seiner Schuld. Das ist eine Strafe
von der härtesten und gesuchtesten Grausamkeit, wenn derjenige, der
ihr unterworfen ist, eine normale Emfindungsfähigkeit besitzt und in
dem neuen Leben nicht etwa irgend einen Ersatz für die Bitterkeiten
und Leiden erblickt, die er früher hatte erdulden müssen. Wer aber,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 580, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0580.html)