Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 581
Text
ehe er in die enge Zelle eingeschlossen wird, in freundlichen Räumen
gewohnt und die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten eines Wohl-
standes genossen hat, muss furchtbare Qualen erdulden in seiner
völligen Abgeschlossenheit von der Welt, ohne Licht und Luft, auf
einem harten Lager, mit einer frugalen Kost und allen Entbehrungen
ausgesetzt! Wer aber überdies ein Verbrechen begangen hat in Folge
der zwingenden Einwirkung ganz ausserordentlicher Umstände, ganz
entgegen seinen guten, normalen Grundsätzen und Empfindungen, muss
der nicht, nachdem die durch den außergewöhnlichen Eindruck hervor-
gerufene aussergewöhnliche Erregung verflüchtigt ist, und er wieder der
normale Mensch geworden, in der stillen Düsterheit und Abgeschieden-
heit dieser vier engen Wände namenlos entsetzliche Qualen erleiden,
die sein Innerstes aufwühlen und verzehren?
Und noch grössere Qualen als der Verbrecher aus Leidenschaft
oder aus Zufall wird der unschuldig Verurtheilte ertragen müssen, der
ein Opfer der Unwissenheit oder Leichtfertigkeit der Richter geworden
ist, die sich durch zufällige Umstände oder durch künstliche Beweise
täuschen und irreführen liessen!
Aus welchen Elementen besteht die Mehrzahl der Zuchthäusler?
Aus Reichen oder aus Armen? Aus leidenschaftlichen oder zufälligen
Verbrechern? Oder aus unschuldig Verurtheilten?
Diese einfachen Fragen muss sich der Psychologe vorlegen, um
zum Ziele seiner Forschungen zu gelangen.
Grösstentheils gehören diejenigen, die sich mit diesen Fragen be-
schäftigen, zu den materiell bevorzugten Classen, sie haben daher die
Neigung, die Empfindungen, vom Gesichtspunkt ihrer eigenen Classen
aus betrachtet, zu beurtheilen, jener Classen, die sie in Folge eines
socialen Phänomens für die überwiegende in der Gesellschaft halten.
Wenn man imstande ist, sich von diesem Vorurtheil zu befreien, so
hat man schon viel gewonnen, um die Frage, die zu prüfen ich mir
vorgenommen, genau erfassen zu können.
Wenn wir nun noch imstande sind, uns von einem weiteren
Vorurtheil zu befreien, nämlich uns mit unserem gesunden Gefühl und
unserer sittlichen Erkenntniss in die Lage des Mörders, des Diebes, des
Betrügers zm versetzen und so die Gefahr auszuschliessen, die Psycho-
logie des Kerkers für den ehrlichen Menschen zu analysiren, während
wir doch die Psychologie des Delinquenten im Auge behalten
sollen, dann gelangen wir endlich so weit, ernste Daten zu erforschen
und uns nicht in romanhaften Phantastereien zu ergehen.
Denn da der grösste Theil der Sträflinge aus Armen, ja aus
Leuten besteht, die nur Noth und Elend kennen, hören die traurige,
kleine Zelle, das rauhe Lager und die frugale Kost auf, das zu sein,
als was wir sie ansehen: sie bedeuten für den an die grössten Ent-
behrungen Gewöhnten keine Einschränkung und kein Schreckniss.
Die Duldsamkeit zahlreicher Zuchthäusler gegenüber den Zellen
erklärt sich eben auch daraus, dass sie darin sogar häufig einen Vor-
theil gegenüber ihrer normalen Lebenslage finden, denn die Nachtheile
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 581, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0581.html)