Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 582

Zur Psychologie des Kerkerlebens (Zerboglio, Prof. Adolfo)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 582

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582 ZERBOGLIO.

des Freiheitsverlustes und der Absonderung von der menschlichen Ge-
sellschaft verschwinden gegenüber den Vortheilen, die ihnen ein sicherer
Schutz vor den Unbilden der Witterung und eine regelmässige, sichere
Kost bietet. Dazu kommt noch die in Folge des elenden Lebens er-
langte physische und psychische Apathie, ihr gewohnter Müssiggang,
die Corruption, die völlige Ignoranz, in der sie leben, was Alles dazu
beiträgt, dass ihnen die Entbehrungen des Kerkerlebens gar nicht zum
Bewusstsein kommen.

Von den zahlreichen Häftlingen, die ich besuchte, zeigte ein
grosser Percentsatz theils durch Worte, theils durch seine Haltung, dass
er sich ziemlich ruhig in sein Schicksal fügte. Jene Resignation, die,
den metaphysischen Philosophen zufolge eine Besonderheit der grossen
Seelen, der edlen Opfer der Verfolgung ist, findet man viel häufiger
bei den schlimmsten Verbrechern.

Der Brigant A..., den ich in der Strafanstalt zu Portoferraio
sprach, einer der gefürchtetsten und furchtbarsten Häupter von Räuber-
banden, der noch vor nicht allzulanger Zeit der Schrecken jener Ge-
genden war, in denen er sein Unwesen trieb, sagte mir in Abwesen-
heit des Gefängnissdirectors, er habe nunmehr 35 Jahre Gefängniss
abgesessen und sei dabei stets ruhig, willig und in sein Schicksal er-
geben gewesen.

Einige zeigten sich sogar heiter, und ich erinnere mich eines
Sicilianers, der wegen Mordes zu 30 Jahren Zuchthaus, verschärft
durch sieben Jahre Einzelhaft, verurtheilt worden war und sich mit
seinem Schicksal ganz zufrieden gab.

Und wenn ich auch nicht immer aus den Mittheilungen der
Sträflinge entnehmen konnte, dass sie zufrieden seien, so erhellte dies
doch häufig aus ihrer ungezwungenen Haltung, aus ihrem verhältniss-
mässig gesunden Aussehen und aus den Berichten der Aufseher und
der Directoren.

Der Charakter der Zuchthäusler zeigt zumeist eine sehr grosse
Schlaffheit, eine sehr beschränkte Intelligenz, einen fast vollständigen
Mangel an sittlichem Gefühl und eine physische Abgestumpftheit, be-
sonders gegen Schmerzen. Für derartig angelegte Naturen ist die Zelle
nicht die Strafe, wie wir sie uns denken. Ein schlaffes, apathisches
Temperament vegetirt mehr als es lebt, und die Zelle ist ein günstiger
Ort dafür. Der vollständige Mangel an Verantwortlichkeit, die geringe
Arbeit, das sichere tägliche Brot, die sichere Schlafstätte bieten einem
trägen Charakter, der keinerlei Bedürfniss nach Emotionen kennt, alles
das, was er sich wünschen mag und was ihn zufrieden macht.

Man wird von der Reue über die vollbrachte Missethat reden,
von schweren Träumen, von Scham über die ihm widerfahrene Ent-
ehrung und Schande. Nun wohl, alles das existirt für die Mehrzahl
der Delinquenten nicht und ist bloss eine Ausgeburt der Phantasie der
guten Menschen, die sich nicht denken können, dass derjenige, der
fähig gewesen, ein Verbrechen zu begehen, nicht der Mann ist, dessen
Gemüth den Qualen der Reue und der Schande zugänglich wird.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 582, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0582.html)