Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 583

Zur Psychologie des Kerkerlebens (Zerboglio, Prof. Adolfo)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 583

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ZUR PSYCHOLOGIE DES KERKERLEBENS. 583

Die Reue ist ein seelischer Zustand, der gewöhnlich mit der Idee
des Verbrechens in directen Zusammenhang gebracht wird, der aber
in der Wirklichkeit in den meisten Fällen dem Delicte gänzlich ferne
steht. Nur sehr wenige von den Sträflingen, die ich sprach, zeigten ein
Bedauern über das Verbrechen, und viele von ihnen, die vorgaben, von
Reue erfasst zu sein, liessen unter dem Schleier der schlauen und
erheuchelten Phrasen des Bedauerns die vollständige Gleichgültigkeit
über ihr Delict durchblicken.

Die Leichtfertigkeit, mit der sie über die Ursache ihrer Kerker-
strafe reden, und die Raschheit, mit der sie von einer anscheinenden
Verzweiflung zu einem entgegengesetzten Gemüthszustand übergehen,
deuten auf ihre Oberflächlichkeit oder auf den Mangel jeden Bedauerns
über ihre Unthat.

Es bliebe nun die Frage über die eingebüsste Freiheit und über
die Trennung von Weib und Kind, und andererseits der Schmerz der
Eltern, des Weibes, der Kinder über ihren verlorenen Sohn, Gatten
und Vater. Nun, in Folge des grossen Elends, in dem sie gelebt haben,
und der geringen Anhänglichkeit und Liebe, die die Familienglieder
mit einander verbindet, erduldet die Mehrzahl der Delinquenten ruhig
und gelassen den Verlust der Freiheit, und sehr bald vergessen die
Sträflinge Jene, die ihnen am nächsten stehen sollen.

Scharfsinnige Zuchthäusler haben mit viel Geschick in ironischer
Weise den sehr geringen einschüchternden Einfluss des Kerkers zum
Ausdruck gebracht. Der Dieb Leblanc rief einmal aus: »Wenn ich nicht
Dieb aus angebornem Hange wäre, ich würde es aus Berechnung
werden. Ich habe das Gute und Schlechte aller andern Professionen
mit einander verglichen und habe gefunden, dass das Diebsgewerbe
noch das beste ist Werden wir schliesslich festgenommen, so leben
wir dann eben auf Kosten der Andern, sie kleiden uns, sie erhalten
uns, sie wärmen uns und dies Alles auf Kosten derjenigen, die wir
bestohlen haben! «1)

Ein englischer Verbrecher setzte die Vorzüge des Kerkers fol-
gendermassen in Verse: »Ich kann nicht mehr spazieren gehen, denn ich
bin unter Schloss und Riegel. Und ich danke dem Publicum, das sich
meiner annimmt. Ich verdiene dies nicht mehr als die Andern, im
Gegentheile, vielleicht weniger. Und inzwischen habe ich Brot, während
die Andern vor Hunger sterben und gezwungen sind, von Thür zu
Thür betteln zu gehen. Ich gedenke des armen Ehrlichen, der durch
die Strassen läuft, nur schlecht gegen Kälte geschützt, während ich
vom Kopf bis zu den Zehen bekleidet und gegen Frost gewappnet bin.
Tausende von ehrlichen Menschen sind ohne Obdach, während ich mein
warmes Kämmerchen besitze. Während sie schlecht genährt sind in den
Armenhäusern, habe ich dreimal im Tage gute, gesunde Kost. Ein
Hoch! dem englischen Publicum, das an alle unsere Bedürfnisse denkt.
So lange es uns so behandelt, wird es ihm nie an Dieben fehlen.«2)


1) Ferry: Sociologia criminale. 1892. Fratelli Bocco, Torino.

2) The Prisons of the World. Chas Cook, London.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 583, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0583.html)