Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 584
Text
So verliert die Gefängnisszelle in unseren Augen nach und
nach von ihrer Düsterkeit, von ihrem Elend und ihrem Schreckniss,
sobald wir wissen, wie ihre Inwohner beschaffen sind und was sie
fühlen. In jener kleinen Welt der Zelle leben Individuen, die weit
weniger unglücklich sind als so Mancher, der Freiheit und wohl auch
Reichthum geniesst
Eine grosse Anzahl von Sträflingen, denen ich mich näherte,
bestand aus rückfälligen Verbrechern, also aus solchen, die durchaus
nicht vor einer etwaigen Kerkerstrafe zurückschrecken und die sich
durch diese absolut nicht vor Begehen eines neuen Verbrechens zurück-
schrecken liessen.
Natürlich gehören nicht alle Sträflinge zu der Kategorie der eben
geschilderten. Es gibt unter ihnen auch solche, für welche die Zelle
eine unsägliche Folter bedeutet. Die wenigen Quadratmeter, innerhalb
welcher der Mensch einem wilden Thier im Käfig gleicht, sind für
gewisse Menschen geradezu ein unerträgliches Martyrium, und die Ge-
fängnissdirectoren sind manchmal gezwungen, gewisse Individuen der
Einzelhaft zu entziehen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 584, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0584.html)