Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 585
Die wahre Bashkirtscheff (Strauss, Rudolf)
Text
Von Rudolf Strauss (Wien).
Jeder halbwegs Gebildete weiss, dass Maria Bashkirtscheff als
Tochter eines russischen Generals geboren, ihr Leben meist auf Reisen
in Italien, Spanien und Frankreich verbrachte, mit 24 Jahren an Lungen-
schwindsucht starb, mehrere talentirte, aber nicht gar zu gewaltige
Bilder zurückliess, die nun sich in Paris befinden, und ausserdem ein
Tagebuch, ein Journal, wie es die meisten jungen Mädchen führen.
Was ist es nun, das uns Maria Bashkirtscheff so nahe rückt und
so unendlich werthvoll macht? Ist es die decadente Form des Denkens,
die sich in diesem Tagbuch offenbart, ihr Zweifeln und ihre Ver-
zweiflung, die Qual ihrer Seele und all ihr hartes, physisches Leid?
Gewiss auch das, allein das ist nicht Alles, sondern zunächst und in
erster Linie: ihr ungestümes Wünschen, ihr heisses Hoffen, ihr wildes,
starres, ihr zügelloses Sehnen. Die schönsten Märchen, die wir träumen,
beginnen eben nicht »Es war einmal«, sondern »es wird einmal sein«,
und der Bashkirtscheff ganzes Erdwallen ist nichts als ein einziger
wilder, stürmischer Traum vom Sonnesteigen, von fernen und glitzernden
Wonnen der Zukunft
Wer Laura Marholm’s Buch der Frauen las, dem muss das Bild
der Bashkirtscheff seltsam verzerrt und schemenhaft erscheinen, zer-
rissen von einem gluthenden Drang nach Liebe, von sinnlicher Wuth,
von schwüler Leidenschaft. »Des Weibes Inhalt ist der Mann« war dort
Frau Laura Marholm’s Thema, das auch an dieser rührend-feinen,
schlanken und leuchtenden Mädchengestalt erwiesen werden sollte. Mit
mehr Geschick als Ehrlichkeit, mit mehr Routine als literarischem
Gewissen verstand Frau Laura Marholm dort, durch tendenziöses Färben
des Berichtes sowie durch unbedenkliches Verwenden einiger Citate
Maria Bashkirtscheff in einem Lichte darzustellen, das sie uns bleich
vor Liebe und krank vor Sehnsucht nach dem Manne zeigte.
Dass das nicht stimmt, soll hier verdeutlicht werden.
Es waren im Ganzen drei Männer, die der Bashkirtscheff Inter-
esse vorübergehend in Anspruch nahmen. Sie zählte gerade zwölf ganze
Jahre, als ihr ein junger Herzog stark gefiel. Wenn sie ihn traf, zog
dunkle Röthe über ihre Stirn, bei seiner Hochzeit weinte sie sogar.
Doch als sie ihn durch Zufall später mit seiner Frau in Nizza einmal
wiedersah, da übergoss sie diesen armen, breit gewordnen Herzog mit
Ironie und blutigem Hohn. War es die wahre, die sinnliche Liebe, die
1) Gelegentlich der deutschen, von Lothar Schmidt besorgten Ausgabe
ihres berühmten Journals.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 585, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0585.html)