Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 596
Die magische Vertiefung der modernen Naturwissenschaft (Du Prel, Dr. Carl)
Text
in der Weise vorgenommen werden könnte, dass dem Patienten die in
einem Accumulator concentrirte Nervenkraft eines gesunden Gehirns
mitgetheilt wird.1) Baraduc hat statt magnetischer Kronen mit Wasser
gefüllte Fläschchen angewendet, die den Kranken in die Hand gegeben
oder auf die Herzgrube gelegt wurden. Legte man sie dann anderen
Personen auf oder tranken dieselben den Inhalt, so traten sehr merk-
würdige Transferte ein.2) Wird das Verfahren umgekehrt, indem nämlich
Gesundheit transferirt wird, so stehen wir vor den Antropinpillen Jäger’s.
Ich muss nun aber auch diese moderne Entdeckung für den oben-
erwähnten Magnetiseur Bende-Bendson reclamiren, der sie schon 1822
machte. Gleichzeitig mit der Petersen behandelte er eine andere Kranke
magnetisch, bei der sich damals Hirnkrisen mit starkem, aber sehr
fröhlichem Irrsinn verbunden ausgebildet hatten. Obgleich er die
Petersen gewarnt hatte, sich dieser Kranken nicht zu nähern, that sie
es doch. »Bei meinem Eintritt — sagt Bendson — entschuldigte
sie sich damit, dass die Kranke sie durch List an sich gelockt habe,
und nun ihre Hand nicht wieder fahren lassen wolle. Da es weder
mir noch den übrigen Anwesenden möglich war, die Beiden von
einander zu trennen, so mussten wir sie stehen lassen. Schon nach
fünf Minuten schlief die Petersen magnetisch ein und ward in dieser
kurzen Zeit ganz von derselben Art des Irrsinns befallen wie
zuvor die andere Kranke, welche nun mit einemmale
voll-
kommen
vernünftig wurde, als jene die volle magnetische
Ladung empfangen hatte.«3) Vom modernen Transfert unter-
scheidet sich dieser Fall nur dadurch, dass das Verfahren mit dem
Magnetstab fehlte; es war überflüssig, weil ersetzt durch die magnetische
Behandlung des gemeinschaftlichen Magnetiseurs.
Um zusammenzufassen, so ergibt sich, dass magische Beziehungen
dann eintreten, wenn die odischen Essenzen sich vermischen. Da nun
die moderne Naturwissenschaft, sogar die Medicin, durch ihre eigene
Vertiefung schon an mehreren Punkten Magie geworden ist, so haben
wir allen Grund, zu vermuthen, dass die mittelalterliche Magie eben
nichts weiter ist, als eine Antecipation der Vertiefung der Natur-
wissenschaft, haben also auch allen Anlass, die Acten des Mittelalters
gründlich zu revidiren. Wenn wir nun mit unserem Erklärungsprincip
der odischen Vermischung in der Hand an die mittelalterliche Magie
herantreten, so stellt sich alsbald heraus, dass dieselbe, weit entfernt
ein zusammenhangloses Aggregat toller Ausgeburten des menschlichen
Geistes zu sein, vielmehr ein zusammenhängendes, geschlossenes System
bildet, das nur der Erforschung mit unseren gesteigerten Hilfsmitteln
bedarf, um seinen antecipatorischen Charakter zu verlieren.
1) Encausse 41—52. Badaud: »La magie au XIXème siècle« 21—39.
»La science moderne.« 14. Nov. 1893.
2) Baraduc: »La force vitale.« 109—114.
3) Archiv für thierischen Magnetismus X, I, 130—131.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 596, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0596.html)