Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 595

Die magische Vertiefung der modernen Naturwissenschaft (Du Prel, Dr. Carl)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 595

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VERTIEFUNG DER NATURWISSENSCHAFT. 595

tischer Weise in der Charité wiederholt und erweitert wurden. Die
Versuchsperson, welche die fremde Krankheit in sich aufnehmen soll,
setzt sich in einen bequemen Lehnstuhl und wird in Lethargie versetzt.
Schläft sie, so nimmt der Kranke ihr gegenüber Platz und ergreift ihre
Hände, und zwar gekreuzt, wenn die Personen gleichen Geschlechtes
sind. Der Experimentator nimmt hierauf einen Magnetstab in die rechte
Hand und streicht mit dem positiven Pol über Brust und Arme der
Sitzenden, vom Kranken zur Versuchsperson und umgekehrt. Hierauf
wird die Versuchsperson aus dem lethargischen Zustand in Somnambulis-
mus übergeleitet, und sie beschreibt nun genau die krankhaften Empfin-
dungen, die auf sie übergegangen sind, während der Patient, der nun
die Hände los lässt, davon befreit ist. Der Versuchsperson werden
sodann Suggestionen ertheilt, um die aufgenommenen Krankheitssymp-
tome zu beseitigen, und nach deren Beseitigung wird sie geweckt.
Dr. Encausse berichtet, dass in der Charité 650 Personen durch
Transfert geheilt wurden.1)

Es scheint, dass beim Transfert Empfindungen geweckt werden
können, die beim Patienten noch gar nicht zum Ausbruch gekommen
sind, was eine Diagnose bereits in der Incubationsperiode möglich
machen würde. Als sich Dr. Louveau auf den Krankenstuhl setzte
und mit der Versuchsperson in Contact trat, sagte sie nach einiger
Zeit, es sei ihr, wie wenn sie einen Nagel im rechten Arm habe.
Einige Tage darauf bekam Dr. Louveau am rechten Arm ein Furunkel.

Es wurden in der Charité auch bei Gehirnleiden Versuche mit
stark magnetischen Kronen angestellt, die den hypnotisirten Kranken
auf den Kopf gelegt wurden, davon odisch influenzirt wurden und, da
sie diese Eindrücke bewahrten, sodann zum Transfert verwendet
wurden. Solche Kronen, mit dem neuropathischen Zustand des Kranken
geladen, übertragen denselben auf andere Personen, die in Lethargie
versetzt sind und denen die Krone aufgesetzt wird. In Somnambulismus
versetzt, beschreibt die Versuchsperson die Symptome, ja sie wird
gleichsam in den Kranken verwandelt. Wird z. B. Hemiplegie über-
tragen, so lässt sie die Arme hängen und redet beschwerlich. Luys
setzte die magnetische Krone einer Melancholischen auf, die an schreck-
haften Visionen litt. Als einige Tage später die Krone einem Mann
aufgesetzt wurde, empfand derselbe die gleichen Beängstigungen und
kleidete sie in dieselben Phrasen wie jene Frau. Unter Verschluss
gebracht, wurde die Krone erst nach 18 Monaten wieder verwendet
und zeigte noch immer bei verschiedenen Personen die ihr imprägnirten
Qualitäten.

Schwindel, Ischias, Neuralgie, kurz alle neuropathischen Zustände,
ob sie somatischen oder psychischen Ursprungs sind, können so über-
tragen werden. Man kann daher ernstlich erwägen, ob es nicht möglich
ist, manche Geisteskrankheiten durch Transfert zu heilen, der aber auch


1) Encausse: »Du traitement des maladies nerveuses«, 193—199. Luys: »Les
émotions dans l’état d’hypnotisme«, 133—139.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 595, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0595.html)