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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 597

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NOTIZEN.

Calderon. Im grossen Säulen-
hofe des gothischen Hauses, in
dem andere Komödien so häufig
in Scene gehen, wird vor ver-
sammeltem Volke jetzt ein grosses
Mysterium agirt: des Don Pedro
Calderon de la Barca Theater
der Welt
. Wie ein lang ver-
schütteter Tempelbau erhebt sich
das Werk vor den erstaunten
Augen, alle Verführungen der Sinne
durch die stärkeren psychischen
Reize ersetzend. Seine herben und
und düsteren Formen, an früh-
gothische Kathedralen gemahnend,
wirken beeindruckend auf die Vir-
tuosen des Geschmacks, und in die
Unruhe und Zerrissenheit des heu-
tigen Lebens dröhnen tieftönig und
erschütternd, Orgelklängen gleich,
diese grossen und einfachen Sym-
bole herüber aus verschollenen
Zeiten, die stylbildende Kraft und
Einheitlichkeit der Cultur besassen.
Zeiten, in denen die Menschen
aussahen, wie sie dachten, und
Häuser und Geräthe aus demselben
Geiste hervorgegangen waren wie
Sitten und Meinungen. Aber ausser
dem Interesse an dem auferstan-
denen Grossen und neben der
Ueberraschung, in Gross-Abdera die
Kunst einmal als öffentliche An-
gelegenheit betrachtet zu sehen,
war es etwas Anderes, was dem
Ereigniss Farbe und Bedeutung
lieh. Ich meine seinen Zusammen-
hang mit dem Umschwung, der
sich in den letzten Jahrzehnten

auf allen Gebieten des geistigen
Lebens vollzog. Mit dem politischen
Niedergang des Bürgerthums fielen
einer nach dem andern auch seine
Werthe. Die Zeit, da man in
Eisenbahnen und lenkbaren Luft-
schiffen die Höhepunkte mensch-
lichen Schaffens erblickte, ist vor-
über, und man begnügte sich nicht
mehr mit der Flachheit, die als
Materialismus die Wissenschaft und
als Naturalismus die Kunst be-
herrscht hatte. Mit der Einsicht,
dass das ganze XIX. Jahrhundert
nichts geschaffen habe, was sich
dem Palazzo ducale in Venedig ver-
gleichen liesse, begann man zu
ahnen, dass es Wahrheiten gebe,
unerreichbar dem Mikroskop und
dem Einmaleins. Und wie in jener
Epoche des späten Griechenthums,
die naive Leute noch immer für
eine Verfallszeit halten, wie damals,
als man in den Palästen von Ale-
xandrien und Rom zugleich zu Isis,
Mithra und Christus flüchtete, so griff
auch jetzt wieder das metaphysische
Bedürfniss wahllos nach den Sym-
bolen, von verstorbenen Culturen
ererbt. Diese Bewegung, die, von
den englischen Primitiven ausge-
hend, in ganz Europa eine neue
Kunst schuf, hat auch Calderon
wieder erweckt.

Auch Calderon lebte in einer
Zeit des Ueberganges. In einem
halb mittelalterlichen Milieu auf-
gewachsen, sog er im Jesuiten-
colleg und auf der Hochschule

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 15, S. 597, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-15_n0597.html)