Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 603

Quintin Messis (Kürnberger, Ferdinand)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 603

Text

QUINTIN MESSIS. 603

vielen Bildern alter und neuer Geschichte erbauliche Lehren und Exempel,
daran ein christlich Gemüth sein wahres Himmelsmanna findet. Nicht
nach Geld und Gut geiz’ ich, das hab’ ich selbst die Fülle, sondern
dem öffne ich mein Haus, der meinem Hause die grössre Ehre bringt.
Blieb ich nun in der Heimat, so könnt ich selbst zusehen, welch Ge-
deihen es hat mit Beiden. Da ich aber fort muss und vielleicht manches
Jahr fern bleibe, so drängt mich der Augenblick jetzt schon zur Wahl.
Darum liess ich Euch entbieten, edler Meister, und Ihr sollt mir nun
auf Wort und Gewissen bei Euter gründlichen Kennerschaft sagen:
Welcher von euren beiden Schülern, Messis und Dagobert, verspricht
ein grössrer Meister zu werden? Für wen Ihr Euch entscheidet, dem
geb’ ich meine Tochter, und dem verlob’ ich sie noch heute.

Memling. Das ist eine schwierige Probe! Nehmt mir’s nicht
übel, Freund, Ihr betrachtet das wie das Soll und Haben in Euren
Büchern — als ob sich in übersinnlichen Dingen so leicht rechnen
liesse. Der Eine kann nach Nord wandern, der Andere nach Süd, und
doch kann Jeder die Unsterblichkeit in seinem Ränzel tragen.

Hildebald. Wer hätte das gedacht! Ich versah mich wahrhaft
einer leichtern Entscheidung. Ich meinte, Ihr würdet unbedingt für
Dagobert stimmen. Lehr’ und Erziehung haben an ihm längst gethan,
was Messis erst anfängt. Ihr wisst, was Hänschen nicht lernt —

Memling. Ueber Eure bürgerliche Weisheit! Wer lehrt dem
Vogel das Fliegen und dem Fisch das Schwimmen? Die Natur ist
eine Riesin, davon ihr andern Menschen nur die Fussspitzen seht im
kleinen Leben. Das Haupt überragt alle Wolken und Sterne und vor
allem Andern Euere Blicke.

Hildebald. Sind die natürlichen Gaben des Messis so gross?

Memling. Ich will Euch ein Beispiel davon geben. Als er im
vorigen Spätherbst mit dem Staube der Flamänder-Strasse bedeckt zu
mir heraufkam und mich bat um Aufnahme in meine Schule, da hiess
ich ihn eine Probe machen und gab ihm ein Vorlagblatt zum Copiren.
Er aber zog ein Blatt hervor, das er schon bei sich hatte, und sagte:
Ich hörte gestern Abend in dem Weinhause, wo ich einkehrte, Euern
Namen nennen, als Ihr in der Mitte Eurer Schüler ein fröhlich’ Po-
culiren hieltet. Da fasst’ ich Euch scharf ins Auge, und auf meiner
Stube zeichnete ich Euch nach. Seht zu, ob Ihr getroffen seid. Und
er zeigte mir eine Handzeichnung — es war die beste Skizze, die man
von meinem Kopfe nehmen kann. Ich vermeinte, der Blitz schläg’
in mich!

Hildebald. Das ist wunderbar!

Memling. Und wie er nun in meiner Schule sitzt, so ist’s, als
gäb’ es nichts Neues für ihn, als hätt’ er Alles längst schon gewusst,
und erinnerte sich nur wieder durch mein Hinzuthun daran. Ich scheine
mehr sein Gehilfe als sein Lehrer. Wie aus der reifen Olive das Oel von
selbst fliesst, so kommen die richtigen Linien und Striche ungezwungen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 603, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0603.html)