Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 605
Text
Hildebald. Vortrefflich! Das habt Ihr mir zu grossem Danke
gemacht.
Memling. Rasch wie die Jungens sind, gingen sie sogleich ans
Werk. Dagobert zeichnete gestern Eure Tochter, und Messis thut es in
diesem Augenblicke.
Hildebald. O, dann eilt, eilt Meister, und seht Euch die Ar-
beiten an! Und wie gesagt, als meinen Eidam erklärt, dem die bessere
gelungen ist. Das thut auf mein Wort, unbedingt, und ohne Ansehen
der Person. Dann reis’ ich gleich die nächste Woche. — O, wie bin
ich getrost, diese Sorge zu erledigen!
(Beide ab.)
Verwandlung.
Im Hause Hildebald’s. Offener Sommersaal mit prächtiger Aussicht über Köln
und die ferne Rheinlandschaft.
Quintin Messis an einer Staffelei arbeitend. Dorothea ihm sitzend.
Messis (indem er Original und Copie mit wechselnden Blicken vergleicht).
Wer nicht zeichnet, der begreift die Schönheit nicht. Jeder Laffe gafft sich
so ein Gesicht an, und sprudelt über nach seiner Art; aber nur der
Künstler sieht ein, wie aus dieser unendlichen Harmonie der Linien,
der Lichter und Schatten sich all der wunderbare Zauber zusammen-
setzt. Und so sag’ ich auch: Nur der Künstler kann lieben, wahr-
haftig lieben!
Dorothea. Und doch, wie wenig scheint Ihr in das Geheimniss
eingedrungen, wenn Ihr die Schönheit in Linien, in Lichtern und
Schatten sucht.
Messis. Bei Gott, Fräulein, Eure Bemerkung beschämt mich!
(Pause.) Ich habe oft darüber nachgedacht, ob die Seele sich ihren
Körper bildet oder nicht; ob die äussre Schönheit eine nothwendige
Folge der innern ist, oder ob der Mensch sein Gesicht wie eine zu-
fällige Maske trägt, die nichts will und nichts bedeutet.
Dorothea. Und zu welchem Schlusse seid Ihr gekommen?
Messis. Zu keinem. Täuschung und Widerspruch sind zu gross,
und die Ausnahme ist so häufig als die Regel.
Dorothea. Merkt Ihr auch, Freund, Ihr sagt mir da die aller-
zweifelhafteste Artigkeit.
Messis. Würd’ ich sie sagen, wenn sie zweifelhaft sein sollte
für Euch? Nein, Fräulein! Ihr seid gut, zärtlich und liebevoll und habt
ein Herz, das Euch die Engel in goldener Opferschale vom Himmel
brachten — ich kenn’ Euch! Dafür seid Ihr aber auch einzig.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 605, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0605.html)