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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 612

Text

DER LEHRER.
Novelle von Anton Tschechoff (Petersburg).
Uebersetzt von J. W.
(Schluss)

Nach der Trauung drängten sich Alle an mich und Manioussia
heran und drückten ihre aufrichtige Freude aus, gratulirten und
wünschten Glück. Der Brigadegeneral, ein Alter, nahe an die Siebzig,
gratulirte bloss Manioussia und sagte ihr mit einer knarrenden Greisen-
stimme, dass man es durch die ganze Kirche hörte:

»Ich hoffe, meine Liebe, dass Sie auch nach der Hochzeit die
Rose bleiben, die Sie jetzt sind.«

Die Officiere, der Director und alle Lehrer lächelten aus Höflichkeit,
und auch ich fühlte auf meinem Gesichte ein verbindliches, unaufrichtiges
Lächeln. Der liebenswürdige Ippolit Ippolititsch, Lehrer der Geschichte
und Geographie, der immer nur das sagt, was Allen längst bekannt
ist, drückte mir fest die Hand und sagte mit Gefühl:

»Bis jetzt waren Sie nicht verheiratet und lebten allein, jetzt sind
Sie verheiratet und werden zu zweien leben.«

Aus der Kirche fuhr man in ein zweistöckiges, ungetünchtes Haus,
welches ich jetzt als Mitgift bekomme. Ausser diesem Hause besitzt
Manioussia noch an 20.000 Rubel und eine gewisse Melitonowskaja-
Wildniss mit einem Wächterhäuschen, wo es, wie man sagt, eine Menge
Enten und Hühner gibt, die, ohne Aufsicht gelassen, wild werden.
Aus der Kirche zurückgekehrt, streckte ich mich behaglich auf dem
türkischen Divan in meinem neuen Arbeitszimmer aus und rauchte;
es war mir so weich, so bequem und gemüthlich, wie noch nie in
meinem Leben; inzwischen schrien die Gäste »Hurrah«, und im Vor-
zimmer spielte eine schlechte Musikcapelle einen Tusch und allerlei
Unsinn. Warja, Manioussia’s Schwester, stürzte mit einem Pokal in der
Hand ins Arbeitszimmer hinein, einen sonderbaren, gespannten Aus-
druck im Gesichte, als hätte sie den Mund voll Wasser; sie wollte
wahrscheinlich weiter laufen, lachte aber plötzlich, schluchzte gleich
darauf, und der Pokal fiel klirrend zu Boden. Wir fassten sie unter
die Arme und führten sie hinaus.

»Niemand kann es begreifen!« murmelte sie dann, auf dem Bette
der Amme im entlegensten Zimmer liegend. »Niemand, Niemand! Mein
Gott, Niemand kann es verstehen!«

Aber Alle verstanden ausgezeichnet, dass sie um vier Jahre älter
als ihre Schwester Manioussia und noch nicht verheiratet war und dass
sie nicht aus Neid weinte, sondern weil sie das traurige Bewusstsein

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 612, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0612.html)