Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 613
Text
hatte, dass ihre Zeit vergehe und vielleicht sogar schon vorüber sei.
Als man Quadrille tanzte, sass sie mit einem verweinten, stark gepuderten
Gesichte schon im Salon, und ich sah, wie Hauptmann Poljansky ein
Tellerchen mit Eis vor ihr hielt und wie sie mit einem Löffelchen davon ass
»Es ist schon nach 5 Uhr Morgens. Ich nahm das Tagebuch zur
Hand, um mein volles, mannigfaltiges Glück zu schildern, und dachte,
dass ich sechs Bogen schreiben und sie morgen Manioussia vorlesen
werde, aber seltsam, in meinem Kopfe geht Alles durcheinander, Alles
ist unklar wie im Traum, und deutlich erinnere ich mich nur an die
Episode mit Warja und möchte schreiben: »Arme Warja!« Möchte nur
sitzen und immer schreiben: »Arme Warja!« Gerade fangen auch die
Bäume an zu rauschen; es wird regnen; Raben krächzen, und meine
Manioussia, die soeben eingeschlafen ist, hat, ich weiss nicht warum,
ein so trauriges Gesicht.«
Dann rührte Nikitin lange nicht an seinem Tagebuche. Anfangs
August begannen bei ihm die Nachprüfungen und Aufnahmsprüfungen,
und nach Maria-Himmelfahrt begannen die Stunden. Gewöhnlich ging
er nach 8 Uhr zum Dienst fort und schon gegen 9 sehnte er sich
nach Manioussia, nach seinem neuen Heim und schaute auf die Uhr.
In den unteren Classen liess er einen der Buben dictiren, und sass,
während die Kinder schrieben, auf dem Fensterbrett mit geschlossenen
Augen und träumte; ob er von der Zukunft träumte oder sich an die
Vergangenheit erinnerte, Alles war gleich herrlich wie in einem
Märchen. In den höheren Classen las man Gogol oder Puschkin’s Prosa
laut vor, und das Alles machte ihn schläfrig, in seiner Phantasie stiegen
Menschen auf, Bäume, Felder, Reitpferde, und er sagte seufzend, als
würde der Autor ihn entzücken: »Wie schön!«
Während der grossen Zwischenpause schickte ihm Manioussia das
Frühstück in einem schneeweissen Serviettchen, und er ass es langsam
und bedächtig, um den Genuss zu verlängern.
Ippolit Ippolititsch, der gewöhnlich nur mit einer Semmel früh-
stückte, sah mit Respect und mit Neid auf ihn und sagte etwas Be-
kanntes, in der Art wie:
»Ohne Nahrung können die Menschen nicht existiren.«
Aus dem Gymnasium ging Nikitin zu Privatlectionen, und wenn
er endlich gegen sechs nach Hause kam, war er freudig und unruhig,
als ob er ein ganzes Jahr nicht dort gewesen wäre. Er lief
athemlos über die Stiegen, suchte Manioussia auf, umarmte und küsste
sie, schwur, dass er sie liebe, ohne sie nicht leben könne, versicherte,
dass es ihm furchtbar bange nach ihr gewesen wäre, und fragte besorgt,
ob sie gesund sei, und warum sie ein so trauriges Gesicht habe. Dann
assen sie zu zweien. Nachmittag legte er sich im Arbeitszimmer aufs
Sofa nieder und rauchte. Manioussia setzte sich neben ihn und er-
zählte leise irgend etwas. Die glücklichsten Tagen waren jetzt für ihn
die Sonn- und Feiertage, wo er von früh bis spät zu Hause blieb.
An diesen Tagen nahm er theil an dem naiven, aber ausserordentlich
angenehmen Leben, das ihn an die Schäferidyllen erinnerte. Er be-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 613, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0613.html)