Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 614
Text
obachtete unablässig, wie seine gescheite und umsichtige Manioussia
das Nest einrichtete, und um zu zeigen, dass auch er kein überflüssiger
Mensch im Hause sei, that er etwas Unnützes, rollte z. B. den Wagen
aus der Scheune heraus und besah ihn von allen Seiten, Manioussia
richtete mit drei Kühen eine echte Milchwirthschaft ein, hatte im
grossen und im kleinen Keller viele Krüge mit Milch, Töpfe mit Rahm
stehen, — das Alles hob sie für Butter auf. Manchmal trank Nikitin im
Scherz ein Glas Milch bei ihr; sie erschrak, da es doch nicht in der
Ordnung war, er aber umarmte sie lachend und sagte:
»Na, na, ich habe gescherzt, mein Schatz! Nur gescherzt!«
Oder er lachte über ihren Pedantismus, wenn sie z. B. im Schrank
ein steinhartes Stückchen Käse oder Wurst fand und mit wichtiger
Miene sagte:
»Das wird man in der Küche aufessen.«
Er bemerkte ihr, dass ein so kleines Stückchen nur für die
Mäusefalle gut sei, sie aber begann eifrig zu beweisen, dass die Männer
nichts von der Wirthschaft verstünden, und dass, wenn man den
Dienstboten auch drei Pud Delicatessen geben würde, sie auch dar-
über nicht staunen würden; er war gleich einverstanden und umarmte
sie mit Entzücken. Das, was in ihren Worten gerecht war, schien ihm
ungewöhnlich, erstaunlich, was aber mit seinen Ueberzeugungen nicht
übereinstimmte, fand er naiv und rührend.
Manchmal kam über ihn eine philosophische Stimmung, und er
fing an, über irgend ein abstractes Thema zu sprechen; sie hörte zu
und sah ihm dabei neugierig ins Gesicht.
»Ich bin unendlich glücklich mit dir, meine Freude,« sagte er,
mit ihren kleinen Fingern spielend oder ihr Haar lösend und wieder
flechtend. »Aber dieses Glück betrachte ich nicht als etwas mir vom
Himmel Zugefallenes. Dieses Glück ist eine ganz natürliche Erscheinung,
folgerichtig, logisch richtig. Ich glaube daran, dass der Mensch der
Schmied seines Glückes ist, und jetzt nehme ich eben das, was ich mir
selbst erschaffen habe. Ja, ich sage es ohne Ziererei, dieses Glück habe
ich mir selbst erschaffen und besitze es mit Recht. Du kennst meine
Vergangenheit, Verwaistheit, Armuth, die unglückliche Kindheit, traurige
Jugend — all das war der Kampf, der Weg zum Glück «
Im October erlitt das Gymnasium einen schweren Verlust. Ippolit
Ippolititsch erkrankte an Rothlauf und starb. Die letzten zwei Tage war
er bewusstlos und sprach im Delirium nur das, was Allen bekannt war:
»Die Wolga mündet ins Kaspische Meer Die Pferde fressen
Hafer und Heu «
Am Tage des Begräbnisses war kein Unterricht im Gymnasium;
die Collegen und die Schüler trugen den Sarg und den Sargdeckel,
und der Schülerchor sang den ganzen Weg bis zum Friedhof: »Du
heiliger Gott«. An der Procession nahmen theil drei Popen, zwei
Diacons, das ganze männliche Gymnasium und der Chor des Archi-
jerei in Galagewändern. Passanten, die dem feierlichen Begräbniss be-
gegneten, bekreuzigten sich und sagten:
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 614, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0614.html)