Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 619

Schulzeit, Gott und die Mutter (Schaukal, Richard)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 619

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SCHULZEIT, GOTT UND DIE MUTTER.
Aus »Wiener Intérieurs« von Richard Schaukal (Brünn).

Ein Rivale aus der Gymnasialzeit, der dann als Mediciner eigene
Wege gegangen, hat den Heinrich aufgesucht. Sie waren einst eine
eigene Art von Freunden, einander beneidend und bekämpfend, immer
hart aufeinander platzend, derb und ungestüm in ihren Anläufen und
beide gleich kindisch eitel, barock in ihrem hitzigen Einanderüberbieten,
beide gleich beseelt vom Triebe nach Erkenntniss, endlich aber dia-
metral divergirend. Sie hatten sich so einer den andern verloren,
waren einander sehr fremd geworden, und wenn sie jetzt zusammen-
trafen, jeder anders überlegen, beide coulant und einander goutirend,
dann war es für den Heinrich immer die geheime Freude eines Blickes
in eine exotische, reiche Welt. Er hatte dem Arthur vor Zeiten seinen
Gottesglauben genommen, in einer eigenthümlich feinen und groben
Weise, momentan und erfolgreich. Der Arthur hatte immer, keusch und
ein häuslicher Mustersohn, recht ungebildet, weil er bei seiner Primus-
stellung, die er sich durch eisernen Fleiss erhielt, keine Zeit zum
Bücherlesen fand, das Aufklärungstreiben seiner intelligenten Bank-
umgebung gründlich verachtet. Da waren einige von ihm gehasste
israelitische Glaubensgenossen, die mit einem unverdauten Büchner
und Darwin herumwarfen, die Taine und Brandes, Lange und
Nietzsche frassen und discutirten, eine begabte, ironische, phrasen-
getränkte Gesellschaft, der sich Heinrich als der einzige Christ des-
selben geistigen Niveaus neugierig und verstehend anschloss. Es war
in der sechsten, siebenten und achten Classe des Obergymnasiums, die
Zeit, in der man mit einem Spazierstocke zur Schule geht, den man
bei dem Conditor, wo man Rechnung hat, stehen lässt, um sich ihn
nach dem Unterrichte, die Cigarette im Munde, wieder abzuholen, die
Zeit, in der man nicht mehr platonisch Mädchen nachsteigt, sondern,
sexuell entwickelt und allseitig über das Geschlechtsthema informirt,
grobe Zoten reisst und heimlich Chansonetten besucht, die Zeit, in der
man über Freytag und Spielhagen hinaus ist, Ebers verachtet und
Bourget in der Uebersetzung liest. Freilich sind das Momente, die der
Heinrich in seiner schon damals werdenden kleinen Universalstellung
in sich vereinigte und die er jetzt, sein Selbst secirend, auf Gruppen
und Schichten ordnend vertheilt, aber da sind alle diese Elemente, in
ihrer Atmosphäre athmen die Begabteren unter den Schülern, und
nur die Lehrer wandern nichts ahnend, verkalkte, bornirte Gesellen mit
Nahrungssorgen und schlechtem Schuhwerk, bespöttelt, verachtet, an

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 619, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0619.html)