Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 623
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
TENDENZEN.
(Nach einem Vortrage, gehalten im Allgemeinen Oesterreichischen Frauenvereine
am 15. Mai 1897.)
Studie von Marie Herzfeld. I.
Alle Rechte vorbehalten.
Man kann die skandinavische Literatur hinsichtlich ihres inneren
Gehaltes in zwei Gruppen theilen. Die eine ist in ihren Ideen die directe
Erbin des XVIII. Jahrhunderts und der Revolution, und ihr Losungswort
ist Vernunft und Freiheit. Ihr religiöses Bedürfniss regelt der Rationa-
lismus, und sie begnügt sich damit, zu glauben, was sich beweisen
lässt, sich im Agnosticismus zu bescheiden oder direct zu leugnen.
Ihre Moral ruht auf dem Bentham-Mill’schen Princip: Gut ist, was der
Menschheit nützt, mit dem Nothausgange für den Einzelnen, dass auch
gut ist, was dem Menschen angenehm. Ihr Ziel ist Glück, das möglichst
grosse Glück für die möglichst grosse Zahl, zu erreichen durch Aus-
merzung der Unlustgefühle, mittelst Hilfe der fortschreitenden Wissen-
schaft und der politischen Einsicht, die das Programm der Freiheit und
Gleichheit und, wenn es durchaus sein muss, auch der Brüderlichkeit
durchführen wird. Das Schicksal der Menschheit wird ihr also nur ein
Verstandesproblem, das mit Fleiss, Scharfsinn und Logik zu lösen sein
muss, und die Zukunft beruht nur einfach darauf, diese Lösung möglichst
vielen Köpfen beizubringen, nachdem man vorher den Menschen zu
einem »Kopf«, d. h. zu einem Denkapparate vereinfacht oder »empor-
gehoben« hat. Dann wird der Mensch auch berechenbar sein; wir
haben für ihn nur noch nicht die Formel gefunden. Diese Gruppe
entlehnt ihre künstlerischen Methoden der Wissenschaft; sie zählt die
äusseren Facten auf und zergliedert die inneren und simplificirt die
Welt, indem sie die Erscheinung auf ein paar Gesichtspunkte hin an-
schaut und auf ein paar Grundlinien zurückführt. Ihr Mittelpunkt und
geistiger Führer ist der Däne Georg Brandes, obwohl sein Geist
noch mehr umschliesst als ein so dürres Programm.
Die andere Gruppe hat den Brandesianismus zu arm und flach
gefunden. Sie sucht im Menschen noch etwas Anderes als eine blosse
Intelligenz. Für sie ist er ein Naturwesen, in dem die heimlichen Kräfte
des gemeinsamen grossen Alllebens sieden und wirken, ein Organismus,
der nicht nur ein Gehirnbewusstsein hat, sondern ausserdem noch ein
mächtiges Unterbewusstsein, eine Art von allgemeinem Körpersinn, der
sich in Sympathien und Antipathien äussert, in stillen Drängen nach
einer bestimmten Richtung hin und in abwehrenden Ahnungen, die ihn
vor einer anderen warnen. In diesem Unterbewusstsein, dem Instinct,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 623, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0623.html)