Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 622
Schulzeit, Gott und die Mutter (Schaukal, Richard)
Text
einstimmung mit dem veränderlichen Sohne immer wieder beilegte, so
war sie auch mit ihm eine freie, heimliche Atheistin, in der nur
manchmal die klagende Sehnsucht nach dem verlorenen Glaubens-
paradies Worte fand.
Sie hatte mit ihm gelebt und gelernt, sie hatte das stammelnde
Reimen des sechsjährigen Kindes gefördert, sie hatte für ihn und mit
ihm in Schulfragen und Seelenkämpfen gelitten, sie war langsam von
dem Piedestale der überlegenen Lehrerin und Ratherin zur Vertrauten,
zur Mitstrebenden geworden, sie liess sich jetzt willig und fügsam
belehren und geistig heben von seinem kühnen, oft sie bestürzenden,
fast hochmütigen Künstlerstreben. Er war ihr dankbar für das von ihr
gepflanzte und gehütete Interesse an Historie und Märchen, er über-
nahm und steigerte ihre Dichterliebe und Heldenideale, den Heine und
den Chamisso, den Lenau und den Napoleon.
Das war Alles wieder einmal so unlogisch aneinandergereiht in
ihm lebendig geworden, seit ihn der Arthur verlassen, dieser so ganz
andere als er, dieser emsige Kärrner und pflichtgetreue Arbeiter an
seinem einheitlichen Lebenszwecke, auch einer von den beneideten
harmonischen, den lebensstarken, ungebeugten Naturen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 622, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0622.html)