Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 621
Schulzeit, Gott und die Mutter (Schaukal, Richard)
Text
dem Momente an wichen auch alle zagenden Bedenken gegen die
kühne Ausgestaltung seines freien Atheismus, er hatte ja längst alle
Zweifel wegdisputirt, und der rohe Religionsraub an dem Arthur fiel
zeitlich schon in eine viel frühere Periode. Sein Verhältniss zu Gott
war übrigens schon seit Jahren ein abergläubisches, selbstisches Fordern
und Danken, wurde mit der Zeit ein mechanisches, geistloses Anrufen
in gefährlichen Momenten und stand schliesslich auf einer Stufe mit
dem naiven Weihenlassen seiner Arbeiten und seiner Feder durch die
Mutter, von der er immer kleine Zettel als Amulets und wirksame
Talismane in die Mathematikstunde trug. Eine Concession aber blieb
bis über sein achtzehntes Jahr hinaus die Schulbeichte, in der er sich
nie einen Scherz, eine Heuchelei oder ein frivoles Versuchsstück ge-
stattete, wie der Ricki, der seinem Beichtvater immer die schauer-
lichsten Verbrechen bekannte und als lästernder Spötter dann über
dessen Ins-Gewissen-Reden mit seinem Seelenhohne herfiel. Der Heinrich
beichtete zwar nicht mehr wie einst nach sorgfältiger Erforschung und
gewissenhafter Detailskizzirung, wohl aber, trotz seiner Verachtung
alles Pfäffischen, immer noch gewissenhaft und ausführlich genug, frei-
lich etwas oberflächlicher und sehr sorglos, aber immer nach einem
stenographirten Zettel, den er — und das bezeichnete sein laxes Ver-
hältniss zu der Ceremonie — jedesmal wieder abschrieb. Das Beichten
war auch noch so etwas Ueberkommenes, an dem er krittelte und
nörgelte wie an der ganzen überwundenen religiösen Pflicht, das er
aber übte, so lange er von der Schule aus dazu gezwungen war, in
einer kleinlichen Furcht vor einem Etwas, das er vielleicht als Zorn
Gottes empfand, oder besser, als den antiken Götterneid und die Rache
dieses hämischen und boshaft mächtigen Wesens. Seine Mutter hatte
ihn früher immer angehalten, wenn er eine Kirche zum erstenmale
beträte, einen Wunsch zu thun, der in Erfüllung gehen würde, ein
alter frommer Aberglaube ihrer Kindheit, den sie, uneingestandener-
massen längst nicht mehr gläubig, ebenso übte, wie man Gräber mit
Kränzen schmückt an Gedächtnisstagen der Todten. Und der kleine
Heinrich hatte sich gewöhnt, immer ein langes Leben in Gesundheit
für seine Mama zu erbitten, eine stereotype Formel, die ihm noch
heute bei allen möglichen Gelegenheiten, die ihm Gewohnheit aufge-
nöthigt, wie zum Beispiel beim Stundenschlag seiner alten schweren
Wanduhr, wenn er im Bette lag, lautlos von den Lippen floss und
über die er sich nicht einmal ärgern konnte, denn es war eine liebe,
gute Reminiscenz aus der Kinderzeit. Mit dem Aufhören des
Kirchenzwanges, als er das Gymnasium verlassen, trat eine starke
Reaction ein, und ausser auf Reisen hat er seitdem keine Kirche mehr
betreten, ja selbst an den grossen Festtagen war ihm die Besuchs-
pflicht schweigend von der Mutter nachgesehen worden, eine Pflicht,
die sie schon wegen der Tochter und überdies aus ererbter nach-
lässiger Pietät übte. Eigenthümlich war der Einfluss seines ruhigen
Unglaubens auf die Mutter überhaupt. Wie sie in ihrer Lectüre seinen
Rathschlägen folgte und sich eine neue Geschmacksrichtung in Ueber-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 621, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0621.html)