Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 620
Schulzeit, Gott und die Mutter (Schaukal, Richard)
Text
diesem bunten, heissen Jugendgarten vorüber, in ihrer kurzsichtigen,
überlebten Pädagogik. Dem Heinrich fallen immer nach so einem sel-
tenen Besuche des Arthur, der längstzerrissene Fäden wieder anknüpft,
solche verwitterte Lehrerprofile ein, und er hängt mit Wehmuth an ihren
verblassten Zügen, wie man oft einen alten Rock wehmüthig betrachtet,
der einem gar nichts bot, gar nichts war und jetzt eigentlich auch nur
ein zufälliges Symbol ist einer fernen Zeit, verklungener lieber Stimmen
und geheimnissvoller, nicht mehr ganz verstandener Gefühle in einer
seltsamen, heiseren, reizenden Sprache. Wie Märchengestalten, die sich
ins helle Leben verirrt, betrachtet er jetzt oft solche für ihn Begrabene,
wenn einer ihm plötzlich in seinem altmodisch-beschränkten Wesen
leibhaftig an einer Strassenecke der Vaterstadt entgegentritt, er bleibt
noch lange stehen und lächelt eigen hinter ihm drein, bedauernd, mit-
leidig und angeschauert von der Vergänglichkeit. Diese Lehrer, über
die er schon damals zukunftsstark hinauswuchs, die so oft kopfschüttelnd
seine Lectüre ganz unverstehend und scheu geprüft, sie poltern noch
immer in ihrer Tretmühle und verabreichen noch immer ihre stagnirte,
vermooste Bildung und gehen noch immer auf in ihren kleinen krausen
Liebhabereien und vergilbten Büchern, und über sie steigen höher und
höher die Fluthen der neuen Tage, so dass ihre Stimmen dem oben
Hinrudernden, wenn er sich herabbeugt, klingen wie ein Wispern und
Raunen von den Menschen in den versunkenen Städten, auf dem
Grunde der grossen, sonneüberglänzten Meere
Ueberhaupt ist ihm die Schulzeit eine der heimlichsten Erinne-
rungen, und an stehengebliebenen Typen constatirt er schmerzlich seine
zerrissene Chamäleonnatur. Seltsam erscheint ihm das Schwinden seines
Religionsbegriffes, er spürt dem Werden des zweifelfreien Atheisten in
ihm begehrlich nach.
Wie er zum ersten kindlich seligen Glauben gekommen, kann er
sich nicht mehr reconstruiren. Seine Mutter übte damals den stereo-
typen Lehrerinnenberuf. Das Gebet blieb ihm lange. Wie ihm die Kirche,
der Schulgottesdienst mit seinem lästigen Sonntagszwange bald bedeu-
tungslos geworden, so dass er schon frühzeitig das Wagniss unternahm,
still bedauert von gläubigen Genossen, in sein Gebetbuch die Volks-
bücher des bibliographischen Institutes und die Reclam’schen Ausgaben
als zeitvertreibende Lectüre einzuschmuggeln, so hielt er andererseits
lange noch, während er schon in der Schule mit den Büchner-festen
jüdischen Collegen sich als Gottesläugner und Materialist reinsten
Wassers gerirte, an dem häuslichen, einsamen Nachtgebet fest, gleich-
sam als Aussöhnungs- und Sicherungsmittel gegen eine allfällige Exi-
stenz des angetasteten und beleidigten höchsten Wesens. Der Materia-
lismus der Schulgespräche war eine Concession an die falsche Scham,
das immer mehr und mehr vereinfachte Beten eine Concession an die
angezüchtete Tradition. Ein plötzlicher Entschluss nach langen geheimen
Erwägungen warf endlich auch den letzten Rest der äusserlichen Gottes-
verehrung, dieses kurze, stumme, schon lange nicht mehr im Knien
verrichtete Abendgebet für seine geliebte Mutter, über Bord, und von
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 620, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0620.html)