Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 624

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 624

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624 HERZFELD.

der uns mit den übrigen Lebewesen der Erde verbindet und auf dem
sich unsere Gemüthswelt aufbaut, in diesem Instincte kommt das Tiefste
und Aelteste im Menschen, sein Urgrund, das Primäre, das aus der Familie,
dem Heimatsboden, der Race, der ganzen Entwicklungsgeschichte heraus
Bestimmte und Gebundene zu befehlshaberischem Ausdrucke und zur
Geltung. Diesen Instinct missachten, wie es der Verbildete thut, heisst
dem Leben die beste Wurzel abgraben; ihm aber gehorchen, heisst der
Natur selbst gehorchen. Auf ihn, der das lebendige Leben ist, muss
der Mensch seine Existenz und die Menschheit ihre Zukunft bauen,
dem Secundären, dem abstract arbeitenden Verstand, darf nur
die hütende Controle bleiben, dann erst kann eine organische, von innen
heraus wachsende und dauernde Cultur entstehen. Eine solche Gemüths-
und Instinctscultur, die germanisch ist, im Gegensatze zur gallischen
Verstandescultur, bereitet sich in der jüngeren Schriftstellergruppe
Skandinaviens vor. Ihre dumpfe Empfindung hat der Schwede Ola
Hansson
wie kein Anderer klar und scharf formulirt.

II.

Man beginnt in der Regel die Zeitrechnung der modernen skan-
dinavischen Literatur mit dem ersten Auftreten von Georg Brandes
als Docent. Im Herbst 1871 eröffnete er an der Kopenhagener Uni-
versität seine epochalen Vorlesungen, die unter dem Titel »Die Haupt-
strömungen der Literatur des XIX. Jahrhunderts« einen europäischen
Ruf bekommen haben. Er stand wohl auf den Schultern von Hettner,
Saint-Beuve und Taine; Andere vor ihm hatten vergleichende Literatur-
geschichten geschrieben, den Zusammenhang der leitenden Ideen be-
merkt, ein Kunstwerk angesehen wie ein Naturproduct, das nothwendig
und organisch aus dem von der Race, der Familie, der Zeit und den
Umständen bedingten Individuum herauswächst; Andere vor ihm hatten
erkannt, dass es mehr gelte zu verstehen als zu richten und dass
alles Urtheil in Kunstsachen nur dahin gehen könne, ob der Künstler
seine Absicht erreicht und ob diese Absicht die menschliche Ent-
wicklung hemme oder fördere, und diese Anderen hatten eine gründ-
lichere Gelehrsamkeit besessen, einen stetigeren Charakter und ein
feineres Gewissen. Allein Brandes war reicher, beweglicher, weiter an-
gelegt als sie alle miteinander, und er war der grösste Künstler unter
ihnen. Und er hatte offenbar die hinreissende Persönlichkeit, die gleich
einem Verkünder und Lichtbringer kam. Er schilderte die Bewegungen
des europäischen Geistes von 1815—1848 und charakterisirte sie als
einen Rhythmus von Ebbe und Fluth, erst das Sinken und Verschwinden
der Gefühls- und Gedankenwelt des XVIII. Jahrhunderts und hierauf
das Rückkehren der fortschrittlichen Ideen in neuen, immer höher
ansteigenden Wellen. Er untersuchte das Wesen dieses rastlosen Auf
und Ab und fand die Reactionen keineswegs stets werthlos. Eine kraft-
volle Reaction ist oftmals nur die Ergänzung einer Einseitigkeit und
selbst eine Art von Fortschritt. Sie ist keineswegs immer lebensfeindlich;
wenn sie kurz ist und energisch, so wird sie nur der Ausgang einer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 624, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0624.html)