Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 625
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
Reaction gegen die Reaction, der Anstoss zu einer aufsteigenden Epoche
des menschlichen Geistes. Nur darf sie nicht stagniren, nicht des Zu-
sammenhanges mit den wirkenden Kräften des Daseins verlustig werden.
Es war eine stagnirende Reaction, die das nordische Kunst- und Geistes-
leben zum Siechen gebracht. In Skandinavien vegetirte noch ein
schwächlicher Ableger der deutschen Romantik mit religiösen, nationalen
und künstlerischen Tendenzen, denen die Lebenssäfte ins Stocken ge-
rathen. Selbst ein Dichter wie H. Chr. Andersen vermochte der Literatur
keine neuen Impulse zu geben. Und sogar Björnson und Ibsen in ihren
Erstlingswerken konnten nur wohlbekannten Wein in ihre neuen Schläuche
giessen. Brandes’ grosses Verdienst bestand nicht nur darin, dass er in
seinen Vorlesungen ein Culturbild aufrollte, die Seelengeschichte der
ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts erzählte, die bedeutendsten Menschen
der Zeit darstellte und die Ideen, deren Gefäss sie waren; er ist nicht
bloss den Ursprüngen der Gedanken und Gefühle nachgegangen, die
in der Kunst einen Leib gewonnen, und hat dabei bewiesen, dass die
skandinavische Kunst eine Kunst aus zweiter Hand. Es begann auf
einmal rings um ihn zu spriessen und zu blühen. War er im
Stande, Talent zu geben? Gewiss nicht. Er war nur die glühende
Flamme, an der die Talente sich entzündeten. Er wusste ihnen nur die
Wege aus dem Sumpfe heraus. Er haute ihnen nur mit dem Schwerte
eine freie Bahn durchs Gestrüpp. Er zerschlug die Convention. Er
brach die zünftige Aesthetik. Er lehrte, dass man in der Kunst es
nicht machen dürfe wie die Anderen, sondern gerade so wie kein
Anderer. Er lehrte, dass man individuell sein müsse, also neu, da kein
Individuum dem anderen gleicht. Individuell, aber auch universell.
Man müsse von der Zeit voll sein, von ihrem Wissen und Leben,
von den allgemein menschlichen und socialen Problemen und sie in
der Kunst zur Debatte bringen. Denn in einer Zeit der Gährung und
der Probleme sei nur dies ein Kennzeichen einer lebendigen Literatur,
dass sie Probleme zur Debatte bringe. Und er überfluthete Skandinavien
mit Problemen, Tagesproblemen. Er führte der Jugend massenhaften
Denkstoff zu. Er übersetzte Mill und Buckle. Er propagirte Taine
und Renan. Er wurde der Biograph von Ferdinand Lassalle. Und
er stellte Muster genialen Denk- und Künstlermuthes auf. Er feierte in
Mérimée, Flaubert und den Goncourts die rücksichtslosen
Neuerer in Stoff, Psychologie und Styl.
Er war der Erste, der wirksam von Max Klinger sprach, und
Friedrich Nietzsche hat er für die Welt entdeckt. Denn fünfzehn
Jahre, nachdem er Mill und Spencer eingeführt und alle politischen
und socialen (nicht auch künstlerischen) Consequenzen aus ihren radical
demokratischen Lehren gezogen — im Jahre 1889 lancirte Brandes
mit dem gleichen Feuer und Verkünderton den radicalen Aristokra-
tismus Friedrich Nietzsche’s — die Herrenmoral, die Lehre
vom grossen Menschen als Zweck aller Entwicklung und von
der Unentbehrlichkeit des Leidens, das die Quelle aller mensch-
lichen Erhöhungen ist. Bei dieser Schilderhebung vergass Brandes, seine
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 625, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0625.html)