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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 631

Text

CHARLOTTE WOLTER.
Von F. Schik (Wien).

Während ihrer fünfunddreissigjährigen Bühnenwirksamkeit am Burg-
theater sind die Leistungen der Wolter erschöpfend gewürdigt worden.
Um die Erinnerung an sie festzuhalten, liegt genügend Material vor.
Nur nach einer Richtung erübrigt jetzt, Betrachtungen anzustellen:
Welche Anregungen hat die Schauspielkunst von Charlotte Wolter er-
halten und welche wirken noch über ihren Tod hinaus? War sie eine
bahnbrechende, richtunggebende Schauspielerin? War sie ihrer Zeit
voraus?

Das Publicum verdankt ihr wohl grosse Kunstgenüsse, die Schau-
spielkunst hingegen kann nicht aus der Erinnerung an sie schöpfen.
Die Wolter steht ausserhalb der Entwicklung der Schauspielkunst, sie
ist kein Entwicklungsglied. Sie hatte selbst kein Gebiet mehr vor sich,
auf dem sie ausschreiten konnte. Ihre Tragik lag nicht in der Richtung
der neuen Kunst und verfiel oft in einen unverhältnissmässigen, in einen
pathologischen Ernst. Das allgemeine Niveau hat sich heute so gehoben,
dass der Einzelne von den höchsten Dingen nicht mehr so weit entfernt
ist wie früher. Das Wort von Unten wird Oben sofort gehört,
und es bedarf nicht mehr des Aufschreies wie ehemals, um sich
vernehmlich zu machen. Das Pathos reducirt sich auf ein Minimum.
Die Revolutionen der Seele gebären heute ein ruhiges Wort, und unser
Ohr hat sich so geschärft, dass wir heraushören, was hinter der Sprache
liegt. Wir werden gestört und gelangweilt, wenn uns der Schauspieler
mehr gibt, als wir brauchen. Wenn wir Stiche aus den Vierziger- und
Fünfzigerjahren betrachten, so nehmen wir den Unterschied wahr, um
wie viel beweglicher und ausdrucksfähiger die Mienen der heutigen
Menschen sind. Das Wort musste damals mehr sagen als jetzt. Betonungen,
Nuancen u. s. w. besorgt heute das Antlitz; das Wort kann fast gleich-
mässig fliessen.

All dies gilt aber nicht nur für die Bühnenfiguren der modernen
Literatur, sondern auch für die Classiker. Es gibt keine classische Spiel-
weise an sich. Die Darstellung der Classiker regulirt sich immer vom
letzten Entwicklungsstadium der Schauspielkunst aus. Wir verstehen die
Gedankenwelt der Römer und Griechen nur dann voll und ganz, wenn
sie in die richtige Perspective für den Zeitblick gebracht wird. Um ein
Kunstwerk so zu erfassen, wie es der Dichter erfasst hat, besitzt jede
Zeit andere Behelfe. Würden die Goethe’schen oder gar die Shakespeare-
schen Stücke heute noch so gespielt werden, wie es diesen Dichtern zu

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 631, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0631.html)