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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 632

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632 SCHIK.

ihrer Zeit entsprach, so würde uns das Verständniss dafür verlorengehen.
Wir verlangen die Interpretation, die der Dichter verlangen würde, wenn
er heute lebte.

Gerade als die Wolter im Zenith ihrer Kunst stand, zeigten sich
die Anfänge einer neuen Kunst, die, im Gegensatz zu der individuellen
Kunst der Wolter, aus der organischen Entwicklung der Menschheit
herauswuchs. Dass die neue Kunst in ihren Anfängen durch Anfänger
vertreten war, die pfadfindend sich erst allmählich entwickelten, während
die Wolter schon die höchste Entwicklung ihrer Kunst darbot, liess
ihr zeitlebens einen Vorsprung. Sie wird jedoch überholt werden, d. h.
die neue Kunst wird eine adäquate Vollendung erreichen. Schon die
Wolter selbst, die fast mit Brutalität aufstrebende Talente niederzutreten
bestrebt war und auch nur den Gedanken an eine Nachfolge nicht
ertragen konnte, war ihre eigene schwächere Nachfolgerin geworden.
Sie entfernte sich immer mehr wieder von der Stelle, von wo aus
eine Weiterentwicklung ihrer Kunst durch frischeres Blut möglich ge-
wesen wäre.

Vom modernen Schauspieler verlangen wir, dass er die seinem
Lebensalter entsprechenden Empfindungen und Seelenkämpfe in dem
Rahmen der von ihm darzustellenden Rolle vor unseren Augen repro-
ducire mit der Wirkung des unmittelbar Erlebten. Bleibt der Darsteller
Jahrzehnte lang in ein und demselben Altersfach, so hemmt sein Bühnen-
leben die Entfaltung seines Eigenlebens. Er hält sich künstlich auf dem
Niveau seiner ehemaligen Jugend, kann aber nicht innerlich selbst mit-
erleben die Veränderungen der neuen Generation. Er wird aus Furcht
zu altern, alle seinem physischen Alter entsprechenden inneren Um-
wandlungen hintanhalten, ganz und gar ausser Contact kommen mit
der wirklichen Welt und nach allen Seiten hin den realen Boden ver-
lieren. So ist es erklärlich, dass die Wolter weder jung bleiben, noch
alt werden konnte. Eine Zeitlang vermag der vollendete Künstler den
Mangel an eigener Fortentwicklung zu verschleiern, und die classischen
Werke haben so viel aufgespeicherte Jugend, dass auch eine überreife
Darstellerin davon noch verjüngt wird. Nur bei seichten Stücken muss
junges Blut von blühenden Wesen abgezapft werden. Aber all dies hat
seine Grenzen.

Die Wolter hat überlebenslang unsere tragischen Gewohnheiten
bestimmt, nun ist es naturgemäss, dass die jetzigen Tragödinnen sich
weit werden von ihr entfernen müssen, wenn sie historische Gestalten
so darstellen wollen, wie dieselben im Lichte der Jetztzeit erscheinen.
Nichts wäre verfehlter, als die Leistungen der Wolter als Massstab an-
zulegen an neue Trägerinnen classischer Rollen. Eine organische Nach-
folge ist unmöglich. Seit zwei Decennien schon hätte neben der Wolter
eine jüngere Kraft gepflanzt werden, und auch neben dieser inzwischen
gewiss schon zur Reife gekommenen hätte schon wieder die jüngere
Kraft wirken müssen. Drei Schauspielerinnen-Generationen hätten gleich-
zeitig dasselbe Feld zu bestellen gehabt. Da aber das Zwischenglied
fehlt, so darf und kann eine Tragödin jetzt nicht dort ansetzen, wo

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 632, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0632.html)