Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 630
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
hatte, vor Allem Mensch zu sein? Theilte er mit ihr seine geistigen
Interessen? — die Helmer’schen hohen geistigen Interessen? Sonst war
ihre Ehe keine echte Ehe. Denn von Liebe als Grundlage der echten
Ehe wurde in der Frauenbewegung nicht mehr viel gesprochen — so
wenig wie von den Kindern als Zweck der Ehe; jene war in der
Emancipationssache ganz überflüssig, weil Liebe nichts von Forderungen
weiss, und diese waren ihr sehr im Weg — ein Hemmniss für die
völlige Gleichheit der Geschlechter, die man a priori für gegeben hielt
und nun zu gesetzlichem Rechte ausbilden wollte. So wurde »Nora«
für die nordische Cultur mehr als eine Dichtung; es wurde eine
Sammlung von Schlagwörtern und ein schlimmes Beispiel. Was nun
bei Ibsen folgt, ist ein immer tiefer dringender Abbau der festen
Traditionen, bis der Boden unter uns hohl war und zum Einbruch
fertig: »Die Gespenster«, »Der Volksfeind« und endlich »Die Wildente«,
mit der Ibsen die ganze Geschichte aufgibt. Es war an unserer Welt
nichts mehr zu ändern und zu bessern. Ibsen verhöhnt sich selbst in
der Gestalt des Gregor Werle, der überall die ideale Forderung
präsentirt. Von nun an begnügt er sich mit der Lehre von den kleinen
Tugenden, wie sie an Menschen mit gestutzten Flügeln wachsen (siehe
»Rosmersholm«, »Die Frau vom Meer« und »Klein-Eyolf«) und mit
der Schilderung des Schiffbruchs innerlich hohler Existenzen, — einer
Hedda Gabler, eines John Gabriel Borckmann — von allerlei Leuten,
die höher steigen wollten, als sie bauen können. Eine lange, lange
traurige Saga. Ibsen’s eigene Saga. Wir haben Stück für Stück seine
Dramen bewundert, doch sein Lebenswerk? Was bleibt davon? Der
Respect vor dem rücksichtslosen Muth, der seine Probleme stellt, und vor
der reinen Menschengesinnung, die mit der Welt nicht auf Accord gehen
mag. Die Freude an einer genialen Technik, die mit der dramatischen
Technik der Griechen dies gemeinsam hat, dass wir nur der Katastrophe
beiwohnen; den Knoten haben Charaktere und Verhältnisse vor Beginn
des Stückes geschürzt; die Ibsen’sche Peripetie besteht in einer dialectischen
Auseinanderwicklung der dramatischen Fäden. Und überdies der Genuss
an einer Reihe überraschender Themen, an manchen schön geführten
Acten und Scenen, an einigen wirklich gesehenen Figuren und an
einem Dialog, der unvergleichlich geistreich charakterisirt. Aber leben
wollen wir nicht mit ihm und seinen Werken. Seine eisige Luft macht
Puls und Athem stocken. Seine Ideale sind zu abstract, seine Menschen meist
construirt. Hirngespinnste, die sich nicht von irdischer Nahrung nähren.
Und seine so scharf geprägten glitzernden Worte sind Schaupfennige
für grosse Kinder: die meisten von ihnen erweisen sich mit der Zeit
als was sie sind, als unedles Metall.
(Fortsetzung folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 630, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0630.html)