Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 629

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 629

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 629

aber die Hoffnung. Die grosse Tragödie »Kaiser und Galiläer« beweist
es. Im Uebrigen war Ibsen’s Künstlerthätigkeit nun mehr als ein Jahr-
zehnt Mauerbrecherarbeit. Er schrieb die Stücke, die ihm einen
europäischen Namen gemacht, Tendenzstücke, pessimistische Darstellungen
aus der Wirklichkeit, die in der idealen Forderung nach innerer Wahr-
heit mündeten: den »Bund der Jugend«, der die liberale Phrase geisselte,
die «Stützen der Gesellschaft«, in dem der Bourgeoisie ein wenig die
Masken gelüftet werden, »Nora« mit der Ausdehnung des Rechtes und
der Pflicht, eine Persönlichkeit zu sein, auch auf das Weib. »Lieben,
Alles opfern — und vergessen werden«, dies war, wie Henrik Jaeger
in seinem Ibsen-Buch betont, für Ibsen bisher der Inhalt, und ein
genügender, schöner, poetischer Inhalt des Frauenlebens gewesen. Mill’s
»Hörigkeit der Frau« sei Ibsen nicht sympathisch gewesen, erzählt
Brandes; auch hätten die unschönen Ausschreitungen der Emancipation
seinen vornehmen Sinn verletzt. Allein vielleicht war es der Druck
der Ideen aus Dänemark, vielleicht war es eine Nachwirkung der
Schriften Camilla Collett’s, der Verfasserin von »Die Tochter des Amt-
mannes«, »Aus dem Lager der Stummen« etc., die Ibsen ausserordentlich
hochhielt, was ihn nun zum Fürsprech der Frauensache gemacht. Er
brauchte nur seine Hjördis ins Moderne umzudichten. Mit Lona Hassel
(Stützen der Gesellschaft) trat zum erstenmal das selbstständige Weib
in Ibsen’s Gestaltenkreis. Von ihr zu Nora war nur ein kleiner Schritt,
doch ein verhängnissvoller. Es war ein Schritt, der ihn aus den
Grenzen des Künstlerischen herausführte. Er wollte etwas lehren, und
zwar an einem Ausnahmsfall, und dazu musste er der dichterischen
Wahrheit Gewalt anthun. Denn Nora, die zierliche, naschhafte Kopen-
hagnerin, die sie dem Temperament nach ist, die kokett ist bis zur
Frivolität und gutherzig bis zum Leichtsinn und kindisch bis zur
Dummheit, sie wird im Moment, wo Helmer sie im Stich lässt, vielleicht
bestürzt sich fragen, warum sie ihren Mann um so viel mehr liebt als
er sie, dass sie ihm jedes Opfer bringen kann und er ihr keines —
denn von den Ideen eines Bankdirectors hat sie keine Ahnung — ja,
ihre Liebe wird vielleicht sogar einen Stoss bekommen; war aber
ernster Stoff in ihrem Gemüth, so hat sie schon vorher genug erlebt,
um sich »auf sich zu besinnen«. Dann war aber das bittere Unrecht
nicht so ersichtlich, das ein zärtlicher Vater und ein zärtlicher Gatte
an ihr begangen, indem es ihnen nicht einfiel, ihre Sonderart zu
entwickeln, wozu Väter meistens zu autoritär sind und Gatten nicht
Zeit haben, noch Lust verspüren. Drum muss der Umschlag plötz-
lich kommen. Die Kopenhagnerin, die nascht und kokettirt und
spielt, verwandelt sich plötzlich in eine Norwegerin, die denkt: dann
aber ist sie schon eine Persönlichkeit für sich und braucht nicht mehr
fortzugehen, um sich »auf sich zu besinnen«. Allein es handelte sich
ja gerade um die »grande scène«, für die das ganze Stück gemacht
war. Diese Scene wurde das Vorbild für eine Menge häuslicher Scenen.
Jede »denkende« Frau untersuchte nun die Grundlagen ihrer Ehe.
Betrachtete ihr Mann sie auch als ein Wesen für sich, das ein Recht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 629, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0629.html)