Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 628
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
der Italiener d’Annunzio, eine Sprache, die reich und abschattirt ist
bis zum Gongorismus und ausgesucht und stimmungsgeschwängert bis
zur Marivaux’schen Preciosität.
Bei aller gegenseitigen Werthschätzung bleibt doch eine innere
Fremdheit zwischen Georg Brandes und J. P. Jacobsen. Näher sind
die Beziehungen des berühmten Kritikers zum Norweger Henrik Ibsen.
Ibsen ist selbst die Verkörperung des auflösenden kritischen Geistes,
der uns bis zum Nihilismus und an den Rand der Weltverzweiflung
geführt hat. In seinen älteren Stücken weht noch eine menschlich
athembare Luft; sie sind auf dem Boden persönlichster Erfahrung
gewachsen. Der Zweifel am eigenen Talente wird zu dramatischer
Gestaltung; eine ganze Reihe von Arbeiten dreht sich um das Problem
von Wollen und Können. Die tiefste und ergreifendste vollendete
Ibsen 1864: »Die Kronprätendenten«, mit Hakon, dem geborenen
König, dem der Königswille ward und der Königsgedanke, und seinem
Widerspiel Skule, der den Ehrgeiz hat, aber nicht den Glauben, den
Arm, aber nicht die leitende Idee. Im einsamen Kampf gegen die
Krüppelwelt wuchs in Ibsen das Gefühl der eigenen Kraft und das
schneidende Weh der Isolation zu »Brand«, dem Hymnus und der
Tragödie der grossen Persönlichkeit, mit der Lehre des Muthes zu sich
selbst: »sei du, und du wirst wirken«. Daraus spann sich dann das
Gegenstück vom kleinen Menschen, vom »Peer Gynt««, der »sich
selbst genug ist«, der gar nicht wirken will, sondern gemessen und
der sich in Phantasterei hüllt, um nicht sehen, nicht handeln, nicht
leiden zu müssen. In »Peer Gynt« wollte Ibsen die zeitgenössischen
Norweger conterfeien, seine lieben Landsleute, die jahrelang vom drei-
einigen Brudervolk der Skandinaver gesprochen und gesungen hatten
und 1864, als es zum Handeln kam, ihre dänischen Brüder im Stich
gelassen. Kein eigener Erfolg tilgte in Ibsen’s Blut von jetzt an mehr
die hassende Liebe, die der Dichter für seine Zeit und sein Volk
empfand. Es wuchsen in ihm immer stärker die puritanische, menschen-
scheue Natur seiner Mutter und zugleich die glänzend satyrische Art
seines Vaters. In einer Reihe von Gesellschaftschilderungen begann
Ibsen seinen Feldzug gegen Phrase und Lüge, zum Zweck der »Revo-
lutionirung des Menschengeistes«, um die Möglichkeit zu schaffen für
das dritte Reich, auf das er hoffte, in dem hellenische Geistescultur
und christliche Gemüthscultur zu einem Reich der Schönheit ver-
schmelzen sollten. Da würde nicht Gesetz, noch Zwang mehr herrschen,
sondern »Freiwilligkeit«, wie er sagte; der Staat war abgeschafft; es
gab nur freie Vereinigungen, die kein anderes Band zusammenschlang
als das der Sympathie — des gleichen Denkens und gleichen Fühlens.
Also eine Art Elysium, pikant gemacht durch Anarchie. Und Ibsen
war naiv genug, die Zeit des »dritten Reiches« schon ganz nah zu
glauben. Der Commune-Aufstand 1870/71 erfüllte ihn mit zitternder
Erwartung; das Ende des Aufstandes zerstörte seinen Irrthum, nicht
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 628, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0628.html)