Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 627

Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 627

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DIE SKANDINAVISCHE LITERATUR U. IHRE TENDENZEN. 627

mehr vom Stamm E. A. Poe’s. Wie dieser, ist er ein phantastischer
Träumer, der in den nächtigen Tiefen der Seele gern die seltsamen
Blumen der Tollheit pflückt und sie secirt. Er dichtet in Arabesken,
wie es Friedr. Schlegel empfohlen, spottet aller Formen, wie Tieck es
gethan. Er kennt kein Gesetz ausser das seiner Willkür, und sein
Wille steht über der gemeinen Grammatik; doch wie bei Poe hat die
Phantasterei eine selbsteigene Logik. Seine Verse sehen aus wie das
wilde Spiel seiner einsamen Laune, und doch sind es geniale Thaten
eines schöpferischen Geistes, der seinem Wollen die Werkzeuge selber
erst findet. Sie sind Urbilder für das, was heute die Symbolisten ver-
suchen, und der raffinirte Ausbau zugleich dessen, was Novalis ge-
stammelt. Denn das romantische Urwalddickicht seines Gemüthes durch-
ziehen die eisklaren Quellen seines Verstandes. Europäischer Positivis-
mus und dänische Phantastik vermählen sich in ihm; seine Erkennt-
niss zerpflückt die Welt und seine Einbildungskraft durchglüht sie.
Drum handeln seine Bücher von Sehnsucht und Enttäuschung. Jedes
Menschendasein ist ihm eine langsame Desillusionirung. Denn was ist
des Daseins Inhalt? Ist nicht alle Schönheit Schönheit, die schwindet,
und alles Glück Glück, welches bricht? Was bleibt uns vom Leben
als das Erblühen der Seele in heimlicher Sehnsucht, als dies Erklingen
des Inneren in tiefer Stimmung des Leidens, was weiter als zauberhaft
durchseelte Bilder und seltsam starke Träume? Das ist gewiss
nicht der Realismus und die Actualität, die Brandes begehrte. Aber
in allen Schönheitsverschleierungen steckt doch auch wieder eine
ungeheuere Naturtreue, die modern ist. Die Landschaft mit ihren
lichtdurchtränkten Lüften, die Pflanzenwelt nach Zeit und Himmel,
das Menschenwesen in seiner Besonderheit ist aufs Individuellste und
Nuancirteste gesehen und geschildert. Denn dieser Träumer ist mit
dem Wissen seiner Epoche saturirt; ja, seine Intuition eilt diesem
Wissen sogar noch voraus. Er sieht die Phänomene des Seelenlebens
stets aus dem dunklen Untergrund des Physiologischen herauswachsen,
und er sieht in unbewussten Gesten und Reflexhandlungen die Rudi-
mente überwundener Ideen, Ideen, die sich noch »in Blut und Nerven«
weiter vererben. All diese feinen und tiefen und neuen Dinge zu sagen,
fand er eine Sprache vor, die das verwittertste, verblassteste Idiom
von ganz Europa war, mit Wörtern, von denen kaum noch mehr
übrig geblieben als die Wurzelsilbe, und diese nur mehr ein zarter,
kaum fassbarer Hauch; eine Sprache ohne Bildlichkeit, mit dürftigen,
abgebrauchten Wendungen, gut für naive Kinder und für abstracte
Gelehrte. Jacobsen plünderte die Dialecte; er schliff und fand selbst
neue Ausdrücke; er durchglühte die Vocale und liess bedeutungslose
Silben fallen, und als er sein Glossar beisammen hatte und die Wörter
nebeneinander setzte, in anderer Folge, als man es just gewohnt war,
und mit guter Ueberlegung, weil das Neue auf die Phantasie wirkt,
in Hinsicht auf die Wirkung der Laute und der Rhythmen, in Bildern,
die strahlten und von innerem Feuer glühten, da war es eine Sprache,
wie sie vor ihm noch Niemand geschrieben und nach ihm nur einer,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 627, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0627.html)