Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 626
Die skandinavische Literatur und ihre Tendenzen (Herzfeld, Marie)
Text
eigene Stellung reinlich zu markiren — zu sagen, ob er seine alten
Ueberzeugungen als irrig erkannt oder wie er so conträre Welt-
anschauungen in sich versöhnen könne. Das hat die Jugend stutzig
und an ihm irre gemacht. Es ist gewiss das grosse Verdienst
von Brandes, dem Norden auch den Culturstrom der Nietzsche’schen
Ideen zugeführt zu haben, doch der Strom hat ihn selbst als Skandi-
naviens führenden Geist hinweggeschwemmt.
Allein die ganze Literatur der Siebziger- und Achtzigerjahre lässt
sich um Georg Brandes gruppiren. Sie ist von ihm beeinflusst oder
mindestens von ihm gefördert; ihr Gedankeninhalt läuft mit dem
seinigen parallel, und selbst abweichende Tendenzen hatten ihren ersten
Ideenkeim in ihm. Weil sein Oppositions- und Freiheitsdrang nomadisch
bis an die Grenzen des theoretischen Anarchismus schweifte, konnte
er bei seiner Leidenschaft für die Befreiung des Individuums in
politischer Hinsicht demokratisch fühlen und in ästhetischer wieder
aristokratisch — (schon 1869 schrieb er: »Die gute Literatur besteht
nur aus Aristokraten«). Er vermochte mit Sophus Schandorph zu
sympathisiren, der das dänische Kleinbürgerthum und Kleinbauernthum
mit seiner Durchschnittswelt für die Literatur entdeckt hat, und zu-
gleich J. P. Jacobsen zu bewundern, der von den Ausnahmen und
dem Seltenen dichtete, vom krankhaft Ueberfeinerten und seinen Quint-
essenzen an Genuss und Leiden. Er hat lange Zeit Holger
Drach-
mann die socialen Stichworte gegeben und sich dabei doch ein Organ
für so spröde zarte Sachen wie Ola Hansson’s »Sensitiva Amorosa«
bewahrt. August Strindberg stand lange Zeit auf brandesianischem
Boden, und sogar ein selbstherrlicher Geist wie Hensik Ibsen ging
eine Weile neben Georg Brandes her. Es gibt Einflüsse, die Im-
ponderabilien sind. Lob und Tadel ist auch eine Form der Einfluss-
nahme. Aber ein grosses Talent trägt seine Gesetze in sich. Es wird
früher oder später seine eigenen Bahnen ziehen und ein Centrum für
die Bahnen Anderer werden.
Gemeinsam ist den Brandesianern, dass sie die Brücken zur Ver-
gangenheit abgebrochen haben. Sie glauben nichts von dem, was ihre
Väter und Vorväter geglaubt. Sie sind »freie Geister« und schweben
mit Gesinnungen, Ideen, Wünschen, Plänen ein wenig in der Luft.
Sie haben mit der Kritik begonnen und sind zum Skepticismus und
zum Nihilismus gekommen, wenn sie nicht wie Björnson ein Hinter-
thürchen fanden, das sie auf Umwegen in die liebe Philisterei zurück-
führte.
Die Freigeisterei bindet auch Jens Peter Jacobsen an sie. Denn
er hat nie »Probleme zur Debatte gebracht« — seine Probleme sind
auch nur psychologische Probleme und seine Zwecke nur literarische
— was Brandes bei den deutschen Romantikern sehr verdammt.
Jacobsen ist von Haus aus sogar selbst ein Romantiker, allerdings
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 626, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0626.html)