Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 615
Text
»Gebe Gott einem Jeden ein solches Ende.«
Als Nikitin ganz gerührt vom Friedhof zurückkehrte, suchte er
sein Tagebuch aus dem Tische hervor und schrieb hinein:
»Soeben haben wir Ippolit Ippolititsch Ryschitzky ins Grab ge-
senkt. Friede deiner Asche, du anspruchsloser Arbeiter! Manioussia,
Warja und alle Frauen, die beim Begräbniss waren, weinten von ganzem
Herzen, vielleicht weil sie wussten, dass dieser uninteressante, ge-
demüthigte Mensch nie von einer Frau geliebt wurde. Ich wollte am
Grabe des Collegen ein warmes Wort sagen, aber ich wurde gewarnt,
dass dies dem Director missfallen könnte, da er mit dem Verstorbenen
nicht sympathisirte. Nach der Hochzeit ist es, glaube ich, der erste
Tag, wo mir schwer ums Herz ist.«
Dann gab es während des ganzen Lehrsemesters keine besonderen
Ereignisse.
Der Winter war flau, ohne Fröste und mit nassem Schnee, am
Drei König-Tage heulte der Wind die ganze Nacht hindurch wie im
Herbst, von den Dächern tropfte es, und des Morgens liess die Polizei
Niemand zur Wasserweihe zum Fluss hinunter, da es hiess, das Eis sei
aufgeschwollen und dunkel geworden. Aber ungeachtet des schlechten
Wetters, war Nikitin ebenso glücklich wie im Sommer. Eine Zerstreuung
kam noch hinzu: er lernte »Wint« spielen. Eines nur ärgerte, regte
ihn auf und schien seinem Glücke im Wege zu stehen: die Hunde und
Katzen, die er als Mitgift bekommen hatte. In den Zimmern, besonders
des Morgens war ein steter Menageriegeruch, die Katzen rauften mit
den Hunden. Die böse »Mouschke« wurde zehnmal täglich gefüttert, sie
wollte Nikitin noch immer nicht anerkennen und knurrte ihn wie
früher an:
»Rrr nga—nga—nga «
Einmal während der Fastenzeit kehrte er um Mitternacht aus dem
Club zurück, wo er Karten gespielt hatte. Es war dunkel, schmutzig
und regnerisch. Nikitin hatte in der Seele einen bitteren Nachgeschmack
und konnte nicht begreifen, woher dieser kam: weil er im Club zwölf
Rubel verspielt hatte oder weil einer der Partner ihm sagte, als es
zum Zahlen kam, dies sei Nikitin doch ein Pappenstiel — offenbar auf
Manioussias Mitgift anspielend. Um die zwölf Rubel that es ihm nicht
leid, auch enthielten die Worte des Partners nichts Beleidigendes, und doch
war es ihm unangenehm. Er hatte nicht einmal Lust, nach Hause zu gehen.
»Pfui — wie elend!« sagte er, bei einer Laterne stehenbleibend.
Es fiel ihm ein, dass es ihm deshalb nicht um die zwölf Rubel
leid that, weil er sie umsonst bekommen hatte. Wenn er ein Arbeiter
wäre, würde er den Werth einer jeden Kopeke wissen und nicht gegen
Gewinnst und Verlust gleichgiltig sein. Und auch sein ganzes Glück,
philosophirte er, fiel ihm unverdient zu und war für ihn ebenso ein.
Luxus, wie Medicin für einen Gesunden; wenn er, wie die Mehrzahl
der Menschen, durch die Sorge ums tägliche Brot bedrückt wäre, ums
Dasein kämpfen würde, wenn ihm der Rücken und die Brust vor An-
strengung schmerzen würden, wäre ihm das Abendbrot, die warme,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 615, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0615.html)