Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 616
Text
trauliche Wohnung und das Familienglück ein Bedürfniss, die Belohnung
und Verschönerung seines Lebens; jetzt aber hatte das Alles eine
sonderbare und unbestimmte Bedeutung.
»Pfui, wie elend!« wiederholte er und verstand sehr gut, dass
diese Betrachtungen schon an sich ein schlechtes Zeichen waren.
Als er nach Hause kam, lag Manioussia im Bett. Sie athmete
gleichmässig, lächelte und schlief offenbar mit grossem Behagen. Neben
ihr lag der weisse Kater, zu einem Knäuel zusammengerollt, und
schnurrte. Während Nikitin die Kerze anzündete und eine Cigarette
anrauchte, erwachte Manioussia und trank mit Gier ein Glas Wasser.
»Ich habe viel Marmelade gegessen,« sagte sie und lachte. »Warst
du bei den Unsern?« fragte sie nach einigem Schweigen.
»Nein, ich war nicht.«
Nikitin wusste schon, dass Hauptmann Poljansky, auf den Warja
in der letzten Zeit grosse Aussichten hatte, in ein westliches Gouverne-
ment versetzt wurde und schon Abschiedsvisiten in der Stadt machte,
und dass es deshalb im Hause des Schwiegervaters langweilig war.
»Abends war Warja hier,« sagte Manioussia und richtete sich im
Bette auf. »Sie sagte nichts, aber man sah ihr an, wie schwer es ihr
ankommt, der Armen. Ich kann Poljansky nicht leiden. Dick, ver-
nachlässigt, und die Wangen zittern ihm immer beim Gehen und beim
Tanzen — nicht mein Held. Aber ich hielt ihn doch für einen ordent-
lichen Menschen.«
»Ich halte ihn auch jetzt für einen solchen.«
»Warum hat er dann so schlecht an Warja gehandelt?«
»Wieso denn schlecht?« fragte Nikitin, indem er anfing, in ge-
reizte Stimmung gegen den weissen Kater zu gerathen, der sich streckte
und einen Buckel machte. »So viel es mir bekannt ist, hat er keinen
Antrag gemacht und keinerlei Versprechen gegeben.«
»Warum kam er denn so oft ins Haus? Wenn man nicht die
Absicht hat, zu heiraten, soll man nicht kommen.«
Nikitin löschte die Kerze aus und legte sich nieder. Aber er
wollte weder schlafen, noch liegen. Ihm schien, sein Kopf sei gross
und leer wie eine Scheune, und darin wandern ganz besondere Ge-
danken herum, wie lange Nonnen Er dachte, dass ausser diesem
weichen Nachtlicht, das dem stillen Familienglück zulächelte, ausser
dieser kleinen Welt, in der er und der weisse Kater es so gut hatten,
noch eine ganz andere Welt existirte Und plötzlich zog es ihn so
leidenschaftlich, so sehnsüchtig in diese andere Welt, um selbst in
irgend einer Fabrik oder grossen Werkstatt zu arbeiten, vom Katheder
zu sprechen, dichten, drucken, lärmen, müde zu werden und zu leiden
Er verlangte nach etwas, was ihn bis zur Selbstvergessenheit in Anspruch
nehmen würde, bis zur Gleichgiltigkeit gegen das persönliche Glück,
dessen Empfindungen so einförmig sind. Und in seiner Phantasie stieg
plötzlich wie lebendig der rasirte Schebaldin auf und sagte mit Ent-
setzen: »Sie haben nicht einmal Lessing gelesen! Wie sind Sie zurück-
geblieben! Gott, wie sind Sie gesunken!« — —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 616, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0616.html)