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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 617

Text

DER LEHRER. 617

Mania trank wieder Wasser. Er sah auf ihren Hals, die vollen
Schultern und die Brust und erinnerte sich an das Wort, welches der
Brigadegeneral einst in der Kirche gesagt hatte: »Rose.«

»Rose,« murmelte er und lachte.

Die schläfrige »Mouschka« antwortete unter dem Bette mit einem
Knurren:

»Rrr—nga—nga—nga «

Ein schwerer Groll wendete sich wie ein kalter Hammer in seiner
Brust um, und er wollte Mania etwas Brutales sagen, sogar aufspringen
und ihr einen Schlag versetzen. Er bekam Herzklopfen.

»Also,« fragte er, sich beherrschend, »wenn ich zu euch ins Haus
kam, musste ich dich unbedingt heiraten?«

»Natürlich, du verstehst es doch selbst.«

»Nett.«

Und nach einer Minute wiederholte er:

»Nett.«

Um nicht zu viel zu sagen und sein Herz zu beruhigen, ging
Nikitin in sein Arbeitszimmer und legte sich aufs Sofa, ohne Polster,
dann auf den Teppich am Boden.

»Was für ein Unsinn!« suchte er sich zu beruhigen. »Du bist
ein Pädagoge, arbeitest auf dem edelsten Gebiete Was für eine
Welt brauchst du denn noch? Abgeschmacktes Zeug!«

Aber gleich darauf sagte er sich mit Bestimmtheit, dass er gar
kein Pädagoge sei, sondern ein Beamter, und gerade ein so unbegabter
Dutzendmensch wie der Czeche, der Griechisch unterrichtete; nie
fühlte er den Lehrerberuf in sich, kannte und interessirte sich nie für
die Pädagogie, verstand nicht mit Kindern umzugehen; die Bedeutung
dessen, was er unterrichtete, war ihm unbekannt, und vielleicht lehrte
er etwas ganz Unnützes. Der selige Ippolit Ippolititsch war aufrichtig
beschränkt, und alle seine Collegen und Schüler wussten, was er sei
und was man von ihm zu erwarten hatte; er aber, Nikitin, versteht es
gleich dem Czechen, seine Beschränktheit zu verbergen, und betrügt
geschickt die Anderen, indem er sich den Anschein gibt, dass bei ihm
Alles, Gott sei Dank, in Ordnung sei. Diese neuen Gedanken schreckten
Nikitin, er verleugnete sie, nannte sie dumm und glaubte, dies komme
von Nervosität, er werde selbst über sich lachen

Und wirklich gegen Morgen lachte er schon über seine Nervosität
und nannte sich ein Weib, aber es war ihm klar, dass seine Ruhe
dahin sei. Er ahnte, dass die Illusion geschwunden war und ein neues,
nervöses, bewusstes Leben begann, welches sich mit der Ruhe und dem
persönlichen Glück nicht in Einklang bringen liess.

Den nächsten Tag, es war Sonntag, war er in der Gymnasiums-
kirche, sah dort den Director und die Collegen. Es schien ihm, dass
sie alle nur damit beschäftigt waren, ihre Unwissenheit und ihre Un-
zufriedenheit mit dem Leben sorgfältig zu verbergen, und auch er selbst
lächelte und sprach von Nichtigkeiten, um ihnen seine Unruhe nicht
zu zeigen. Dann ging er zum Bahnhof, sah den Postzug kommen und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 617, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0617.html)