Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 636
Text
In Geburtswehen ringt die Menschheit nach Auferstehung vom
Thiermenschen zum Christusmenschen. Das ist ihre heilige
Bewegung!«
Und ein solcher sich Bewegender ist Diefenbach, darum muss
man ihn als künstlerische Erscheinung lieben und schätzen. Mag man
Manches seiner Anschauungen als Irrthum erkennen, oder mag man
sich rückhaltlos für dieselben begeistern, er bleibt als Künstler und
Mensch ein Ringender, ein Suchender, ein sich rastlos von
seinem »Ich« Fortbewegender!
Darum habe ich ihn in diesen Blättern gewürdigt, darum empfinde
ich seine Lebensschicksale nicht mit dem engherzigen Gefühl des per-
sönlichen Mitleides, sondern mit schmerzlicher Erkenntnis als eine traurige
Erscheinung unserer Zeit, die unbedingt zu verurtheilen, zu verdammen ist.
Die tiefe und erschütternde Nothlage Diefenbach’s veranlasste mich,
eine Schilderung seines Wesens und seiner Persönlichkeit zu
geben — ich halte mich darum mit Absicht von einer kunstkritischen
Beleuchtung seiner Schöpfungen ferne.
Mögen seine Bilder nun mit Oel oder Wasserfarben gemalt sein,
mag man ihn als Coloristen schätzen oder als Zeichner, das ist in dem
Augenblicke, da dem Künstler alle Möglichkeit zu künstlerischer Be-
thätigung fehlt, sehr gleichgiltig.
Wir wenden die Aufmerksamkeit daher dem Unrechte zu, das
Diefenbach in Wien erfahren und das er mit unumstösslicher Beweis-
kraft in seinen zwei Bänden »Ein Beitrag zur Geschichte der zeit-
genössischen Kunstpflege« erwiesen hat. Die Tagesblätter haben keine
Notiz davon genommen, während uns die Zwistigkeiten zwischen der
Secession und der Künstlergenossenschaft fortgesetzt in allen uninter-
essanten Phasen berichtet werden!
Ein Künstler wie Diefenbach aber, der durch die famose Ge-
schäftsführung des Kunstvereins an den Bettelstab gebracht wurde, ist
eben eine ganz uninteressante — sicher aber eine das Gewissen der
sogenannten Kunstfreunde nicht sehr beruhigende Erscheinung!
Eine gerichtliche Klärung dieser Angelegenheit wäre — so wenig
sie von den hiesigen Behörden zu erhoffen ist — nur dringend zu
wünschen. Bis dahin aber gebe man dem Künstler sein heiligstes
Recht — die Möglichkeit, zu schaffen! Dutzende von Villen stehen den
ganzen Sommer über leer und unbewohnt. Ein einziger hoher, heller
Raum würde als Atelier für den Künstler genügen, ihm die Arbeit er-
möglichen. Vielleicht findet sich unter den Glücklichen, die sich leer-
stehende Villen vergönnen können, ein echter Kunstfreund! Dann käme
endlich über den geistig rastlosen, aber körperlich fast zu Tode ge-
hetzten Künstler für einige Monate jene nothwendige Ruhe, die
er zu neuem Schaffen ersehnt. Wir wünschen nur eines ehrlich, dass
Diefenbach endlich von seinen persönlichen Kämpfen befreit und seinem
künstlerischen Schaffen wiedergegeben werde. Man zolle ihm endlich
als Künstler und Mensch — Gerechtigkeit!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 636, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0636.html)