Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 635
Text
vesten ihrer zeitgenössischen Weltanschauung zu erschüttern suchen,
begann auch Diefenbach bald, sich als Apostel einer neuen Heilslehre
zu fühlen, die er mit der ganzen Zähigkeit, dem ganzen Starrsinn und
der Unbeugsamkeit des im tiefinnersten Ueberzeugten, des sich sehend
unter den Blinden Fühlenden verficht.
Würde Diefenbach mit Bild und Schrift seinen Ideen Ausdruck
verliehen haben, und wäre er als Mensch auf dem Niveau der heutigen
Gesellschaft verblieben, hätte er »bescheiden« gestrebt, wie die meisten
anderen Künstler — antikünstlerisch wie diese, nicht über sich selbst
und die engen Grenzen seiner »Welt« hinaus kommend — man würde
ihn als Künstler geschätzt, als Denker bewundert haben, man hätte
ihm einen Platz angewiesen neben manchen Anderen, die unserer Kunst
neue Pforten eröffnet, ihr neue Perspectiven über unseren engen Horizont
hinaus erschlossen haben.
Diefenbach aber wagte es, nicht beim Worte zu verweilen, er
identificirte sich mit seinen Anschauungen, er legte andere Kleider
an, ging ohne Kopfbedeckung, nährte sich bloss von Früchten und
streifte auch sonst Alles das ab, was er in unserer Gesellschaftsordnung
für faul und unhaltbar empfand.
Es ist typisch für unsere Zeit, dass diese Handlungsweise, zu der
eigentlich jeder Commis voyageur ebenso berechtigt wäre wie ein zu den
Zielen höherer Entwicklungen schreitender Künstlermensch, genügte,
um den gewiss interessanten und beachtenswerthen Mann zum Narren
zu stempeln, ja selbst ihn der erbitterten Verfolgung seitens der Be-
hörden und aller Philister- und Dutzendköpfe, die leider die erdrückende
Majorität bilden, auszusetzen.
Leider vermag aber auch ein grosser Theil der sogenannten
»Intelligenten« nicht über die kleinlichsten Vorurtheile hinweg einem weit-
schweifenden Künstlergeiste auf seinem Pfade zu folgen.
Das ist der unheilbare Krebs, der jede Entwicklung hemmt, die
erbliche Belastung mit dem Bedürfniss nach Ruhe, nach Verweilen im
Gegenwärtigen, die tödlich auf die Kunst und ihre Bestrebungen wirkt.
Sie ist der Erbfeind in uns, das schleichende Gift, das die geistige
Gesundheit des Organismus Mensch untergräbt. Die Vorurtheile der
Menge sind die Maulwürfe, die den Boden, den wir bebauen wollen,
unterwühlen. Sie blinzeln nur zum Licht auf, das sie hassen, weil sie
es nicht zu ertragen vermögen. Kein Dichter hat dies in unserer Zeit
so tief erfasst und begriffen, keiner so erlösende Worte dafür gefunden,
als Peter Altenberg:
»Wer sich als Fertigen, Endgiltigen, Entwicklungs-
endproduct, als Unbeweglichen, Beständigen, Defini-
tiven fühlt, weiss, erkennt, ist Heide!
Wer sich als Vorläufigen, Unbeständigen, sich Weg-
bewegenden, sich von sich selbst Wegbewegenden fühlt,
weiss, erkennt, ist Christ!!
Das Reich, das da kommen wird! Die Wiedergeburt!! Wehe den
Verharrenden!!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 635, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0635.html)