Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 638

Dahlmann, »Briefe eines jungen Deutschen« Hunt, »Kurze Gespräche über Kunst«

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 638

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638 NOTIZEN.

pflichtet derartige Erzeugnisse mit
einem schroffen Worte abzuthun,
statt den Autor langsam am
Messer der Kritik verbluten zu
lassen. Aber man beklage Herrn
Dahlmann — verwerfe ihn nicht.
Er ist ein Opfer seiner Zeit.

Mich wenigstens hat der junge
Herr gerührt mit seinem ehrlichen
Willen zum Talent, zum Schaffen.
Was er jemals von Nationalismus,
Moderne, Hauptmann, Bismarck,
Shakespeare, Juden — alles kunter-
bunt durcheinander gehört — das
wird geleimt, gestampft und in dem
Kessel einer heissen Leidenschaft
— sie natürlich Bestie — ganz
Fleisch, — er Uebermensch — und
ganz Seele, höchst ergötzlich wie-
der auseinandergesprengt.

Wollte man ganz boshaft sein,
so könnte man den Autor mit sei-
nen eigenen Worten zerschmettern:

»Ich bin einmal keine Schrift-
stellernatur, ich hätte, glaube ich,
besser gethan, wenn ich Pferde-
knecht geworden wäre als Dichter
ich habe meinen Beruf verfehlt.«

Bravo, Herr Dahlmann, dass
unterschreibe ich.

Wien. E. Kotanyi.

W. M. Hunt, Kurze Ge-
spräche über Kunst. Auto-
risirte Uebersetzung von A. D. J.
Schubart, Strassburg. J. H. Ed.
Heitz (Heitz und Mündel) 1897.

Kein Geringerer als Josef
Israëls, einer der Hauptbegründer
des Impressionismus, hat in der
Vorrede zu Hunt’s »Gesprächen«
über den Amerikaner geschrieben:
»er sei einer der geschicktesten,
genialsten Künstler der jungen
amerikanischen Malerschule ge-
wesen.« Was Hunt, der Schüler
Thomas Coutures und François
Millets, als ausübender Künstler

geleistet hat, seine Arbeiten, »die
Corots Zartheit, Troyonts breite
Art mit Rosseaus Scharfsinn vereini-
gen«, das soll hier unerörtert bleiben.
Aber nicht Lob genug kann den
Weisungen gezollt werden, die er
im Atelier seinen Jüngern gab; wir
verdanken die Ueberlieferung der-
selben und gleichzeitig damit das
vorliegende, überaus anregende
Buch einer seiner Schülerinnen,
die mitschrieb, was der abgöttisch
verehrte Lehrer sagte. So sind
Hunt’s »Talks on Art« keine
trockene Aesthetik, sondern Aper-
çus, die den frischen Eindruck der
Unmittelbarkeit athmen. Man kann
das Buch aufschlagen, wo man will,
überall findet man Anregung, Geist,
haarscharf treffendes Urtheil. Worte,
wie: »Die Gegensätze der Farben
sind die Grundlage des Bildes«,
»Der Maler muss drei Menschen
aus sich machen: einen, der vor-
wärts strebt, einen, der sorgfältig,
und einen, der kritisch ist«, »Machen
Sie Ihre Zeichnung nicht zu leicht
verständlich; es kommt nicht darauf
an, ob die Leute Sie verstehen, man
muss der Phantasie etwas übrig
lassen«, »Ueberlegenheit zeigen, ist
mir ein Greuel«, »Die erste Bedin-
gung, Kunst zu entwickeln, ist nicht
nachahmen und nicht an Andre
denken«, »Man darf nicht lauter
Hachés, sondern auch ehrliche
Beefsteaks machen«, und tausend
andere mehr verrathen, welch ori-
gineller, bescheidener und kluger
Lehrer dieser grosse Künstler ge-
wesen ist. Man findet Israël’s
Mittheilung, dass die Maler so
viel Redegewandtheit, so viel
fein überlegtes künstlerisches Em-
pfinden bewunderten, als Herr
Wisseling das Werk aus London
nach Haag brachte, man findet

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 16, S. 638, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-16_n0638.html)