Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 649
Text
Messis. Ihr sagt mir auf die mildeste Art, dass ich zu Gunsten
meines Herzens ein Schwachkopf gewesen sein mag. Wohlan, ich will
den Triumph haben, dass der Mann gestehen soll: Jüngling, meine
Vernunft und dein Gefühl sind Eins!
Memling. Lasst sehen!
Messis. Wir haben in der Nähe von Antwerpen eine Schenke,
die viel besucht wird, denn sie steht seit Alters in gutem Ruf, und
ist auch ein liebes, freundliches Plätzchen. Bei Meister van der Keert
heisst sie, und ist vor dem Kronenburger Thor gelegen. Da hinaus kam
ich eines Abends, um die Zeit, da der Frühling in vollem Drange
blühte, und ist nun eben ein Jahr in diesen Tagen. — (Er hält inne.)
Memling. Nun? Ich höre wohl! Fahrt fort!
Messis. Der Mensch hat kein Unglück erlebt, der davon erzählen
kann! Kein Wort! Kein Hauch darüber! Das ist nicht umzubringen,
nur zu ersticken!
Memling. Dass doch die Erfahrungen des Alters der Jugend
zugute kommen könnten! Warum muss dieses Ungeheuer von Irrthümern
und Leidenschaften, das tausendmal bekämpft und besiegt worden ist,
stets von Neuem bekämpft und besiegt werden! Warum dürfen wir der
Nachwelt das Leben nicht um wohlfeilem Preis hinterlassen, als wir
selber gekauft haben! Geld und Gut, Häuser und Felder erwerben wir
für den Genuss des Sohnes und Enkels, eine Stecknadel kann ganze
Geschlechter hinab sich vererben — aber den köstlichsten Schatz unseres
Lebens, die Weisheit, sammeln wir für das unfruchtbare Grab, für die
Elemente und Würmer! — Nein, ich kann Euch nicht reisen lassen.
Ich sehe, der wichtige Moment findet Euch unvorbereitet; vor Gott
bin ich Euch’s schuldig, dass ich Euch jetzt nicht verlasse. Hört mich
an, Messis! Jeder Mensch hat einen Augenblick des Glücks in seinem
Leben; den versäumt, ist oft sein ganzes übriges Dasein nichts als ein
steter Kampf mit einem kümmerlichen, unbedeutenden Schicksal. Dieser
glückliche Augenblick ist jetzt für Euch da. Vielleicht ist er der einzige.
Dass ihr kein besonderes Schosskind der Fortuna seid, könnt ihr schon
weg haben. Wenn man wie Ihr, um bei trocken Brot Engel und Heilige
zu malen, am Sonntag betrunkenen Bauern zum Tanze aufspielen muss
— Ihr seht, ich kenne Euer Schicksal. Aber nicht, dass Ihr arm geboren
seid, ist Euer Missgeschick, sondern weit mehr noch Euere Gemüthsart
selbst. Ich gebe jedem unbemittelten Schüler von Talent Unterhalt in
meinem Hause ohne Anstand. Warum verschmähtet Ihr’s? Dieses stille,
empfindsame Wesen hat nie seinen Weg durch die Welt gemacht! —
Ihr werdet nachdenklich, es trifft Euch die Wahrheit meiner Worte.
Höret mich weiter. Jetzt schmachtet und darbet Ihr, aber die Kraft
dazu gibt Euch nur Euer innerliches Glauben und Glühen nach einer
desto reicheren Zukunft. Auf einen Wurf habt Ihr Euer ganzes Leben
eingesetzt, das ist die Kunst. Nach ihr hungert und dürstet Ihr, sie
reisst Ihr mit einer Gier an Euch, als ob Ihr sie nicht wie eine edle
Braut mit langsamem, frommen Werben gewinnen, nein! als ob Ihr sie
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 17, S. 649, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-17_n0649.html)