Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 756
Text
mich anbelangt, so erblicke ich sie nur mehr ganz undeutlich, weil
ich schon lange weiss, was ich davon zu halten habe.«
»Ich,« sagte sanft Frau Téard, eine köstliche alte Frau von
grosser Vernunft, »ich habe es oft versucht, mir das Schloss vorzu-
stellen und habe niemals auch nur das kleinste Thürmchen entdecken
können! «
Ich war verblüfft. Von Minute zu Minute wurde das Bild deut-
licher, wurde gewaltiger: ich sah Querbalken, Spitzbogen, Zinnen — und
alle diese bläulich schimmernden Einzelheiten färbten sich immer tiefer,
wie unter einem phantastischen Pinselstrich.
»Schliesslich,« murmelte ich, »kann man doch diesen Fels besuchen?«
Téard’s Mutter neigte lächelnd ihren Kopf nach der linken Achsel.
»Sie wollen also den Sprung jenes Taugenichts riskiren?«
»Was ist’s mit dem Taugenichts? Eine Legende?«
»Nein, ein sehr natürliches Abenteuer. Es war ein Recrut, der
gewettet hatte, er werde da oben Bussard-Eier aus dem Neste holen,
ehe er zum Regiment einrücke; und da er an dem Morgen, als er den
Aufstieg unternahm, benebelt war, so ist er von ihrem famosen Schloss
bis zu seiner Hütte hinuntergekollert. Wenn er auch keine Bussard-
Eier gefunden hat, so hat er doch die Wachtstube gefunden, als er zu
seinem Hauptmann kam, denn man hat ihn pflegen müssen, und so hat
er die erste Einberufung versäumt, der Dummkopf.«
Ich blieb vor dem magischen Schlosse in Betrachtung versunken.
Ein leichter Nebel umgab jenen, von grossen Wachholdersträuchen und
einem Buchendickicht bewachsenen Hügel. Man träumte die frische
Kühle rinnenden Wassers dort hinein, das da aus den Tiefen der
Wartthürme riesle, und das Felsgestein schien in der Ferne wie die
Haut eines Reptils zu schillern. Einen Fuss breit vom vordersten Theil
des Hauptgebäudes entfernt war eine Art Wulst wie ein Rundweg zu-
geschnitten, welcher vollkommen den Eindruck hervorbrachte, als habe
die Menschenhand hier gewaltet, und es schien so leicht zu sein, sich
darauf lustwandelnd zu ergehen, dass ich die Geringschätzung meiner
Freunde nicht begriff.
»Wir werden hingehen, es bleibt dabei,« sagte Téard mit einer
pfiffigen Grimasse.
Wir brachen am nächsten Tage auf. Frau Téard folgte uns, einen
wohlausgerüsteten Korb tragend, denn, sagte sie: »es sei doch
immer-
hin
weiter, als man denke.«
Nach einer Stunde Weges durch Felder und Weingärten kamen
wir an den kieseligen Abhang eines Hügels, dessen Centrum ein-
gesunken war und dessen dichter, kalter Schatten einen Weiler von
fünf bis sechs armseligen Hütten umdüsterte. Schweigende Menschen;
Männer schlagen Fässer zusammen, ohne zu schreien oder zu schelten,
Frauen wiegen ihre Säuglinge, ohne dabei zu singen. Vielleicht war ich
es allein, die diese specielle Vision eines schlummernden Dorfes hatte,
da meine Freunde durchaus nichts Unnormales bemerkten, als sie
diesen Winkel Schattenlandes durchschritten. Gleichwohl bemerkte Frau
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 756, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0756.html)